Wie Gott den ersten Dorstener schuf

 

 

Vor langer, langer Zeit, kurz nachdem Gott die Welt erschaffen hatte, formte

 

er im nordwestlichen Europa eine liebliche Landschaft, die mit Sonne und Regen

 

gleichermaßen beglückt war, in der Roggen und Weizen in reichem Maße wuchsen,

 

und in der sich die Tiere wohlfühlten wie sonst nirgendwo. Die Wälder aalten

 

sich in sattem Grün, die Wiesen waren weich wie Samt, und mitten hindurch wand

 

sich ein Fluss, den man Lippe nannte.

 

Hier nun ließ sich Gott eines Tages nieder, erschöpft von der vielen Arbeit, und

 

sagte zu Petrus: „Lass uns ein wenig in dieser Aue verweilen, hier finde ich die

 

Ruhe, die ich brauche“. Petrus antwortete: „Gewiss, oh Herr, ist dies eine Landschaft,

 

der es scheinbar an nichts mangelt. Doch etwas fehlt noch.“ „Was könnte

 

das sein?“ murmelte Gott, der gerade einschlafen wollte. „Nun, oh Herr, du hast

 

zwar Wald und Flur erschaffen, du hast Rehe und Hasen hineingesetzt, und Vögel

 

und Fische erfreuen das Herz. Doch du hast den Menschen vergessen, der

 

die Natur hegt und pflegt und der die Felder bestellt“. „Du hast recht“, gähnte

 

Gott und richtete sich auf, „lass uns eine Siedlung gründen. Ich werde Häuser

 

und Ställe an diesen Fluss stellen und den Ort Dorsten nennen, denn dieser Name

 

gefällt mir“. So tat er es auch, und als er sein Werk vollbracht hatte, legte

 

er sich zufrieden nieder.

 

Doch Petrus ließ nicht locker: „Und nun musst du noch den ersten Dorstener

 

schaffen“, mahnte er. Gott reckte und streckte sich, griff eine Hand voll Lehm,

 

und formte aus ihm einen Menschen. Ein großer starker Mann entstand so, ein

 

breitschultriger Hüne, wie geschaffen für die harte Arbeit auf Feld und Hof.

 

Gott betrachtete stolz sein Werk und zeigte es Petrus. Der aber protestierte:

 

„Das ist stattlicher Recke, den du da geschaffen hast, Herr, doch du hat ihn aus

 

dem Lehm nördlich der Lippe geschaffen, das kann niemals ein richtiger Dorstener

 

sein.

 

Gott knetete den Lehm wieder zusammen und legte den Klumpen beiseite. Nun

 

füllte er die andere Hand mit Lehm und formte aus ihm einen wohlgestalteten

 

Jüngling. Gott zeigte ihn Petrus und fragte: „Bist du nun zufrieden? Dieser

 

Jüngling ist zwar nicht so stark wie der Bauer, den ich aus dem Lehm nördlich

 

der Lippe geformt habe, aber er ist intelligent genug, sich sein Leben so zu gestalten,

 

dass er ein auskömmliches Leben findet“.

 

Doch Petrus widersprach auch jetzt. „Das geht nicht, Herr, dieser Jüngling ist

 

zwar schön und klug, und er könnte ein wunderbarer Dorstener sein, doch er ist

 

aus Lehm westlich des Schölzbaches, das kann niemals ein richtiger Dorstener

 

sein“.

 

Gott richtete sich enttäuscht auf. Er beschloss, es noch einmal zu versuchen.

 

Diesmal griff er etwas weiter aus, füllte wieder die Hand mit Lehm und formte

 

aus ihm ein wunderschönes Mädchen. Er kannte seinen Petrus und war sicher,

 

diesmal auf keinen Widerspruch zu stoßen.

 

Petrus sah das Mädchen mit Wohlgefallen an. „Dies ist ein gar liebliches Geschöpf,

 

oh Herr, du bist ein wahrer Meister, dass du so etwas Schönes erschaffen

 

kannst. Doch leider muss ich dich wieder enttäuschen. Du hast Lehm von

 

Kirchhellener Gebiet genommen. Daraus kann nun wahrlich keine Dorstenerin

 

entstehen, und sei sie auch noch so schön“.

 

Doch nun verlor Gott die Geduld. Er stand auf, nahm zornig alle drei Klumpen

 

Lehm, knetete sie zusammen, vermischte sie mit Lippewasser, und formte aus

 

diesem Gebräu einen Menschen.

 

Und so sind die Dorstener auch heute noch. Sie stehen auf zarten Beinen, haben

 

einen Körper wie ein Jüngling, und einen Kopf stur wie ein Bauer. Und wenn sie

 

sich über die Menschen nördlich der Lippe, westlich des Schölzbaches oder südlich

 

der Stadtgrenze beklagen, so wissen sie doch, dass sie selbst von diesem

 

Fleische sind. Und so ist der Dorstener gastfreundlich, weltoffen und hat Freude

 

am Leben. Und wenn Gott mal wieder in diese Gegend kommt, lässt er sich

 

nieder und betrachtet zufrieden sein Werk, dass er einst vor langer Zeit geschaffen

hat. (Werner Wenig)

 

 

 

Literatur:

 

Edelgard Moers (Hrsg): Neue Dorstener Geschichten – Märchenhaftes zum

 

Träumen – Sagenhaftes zum Staunen – Wahrhaftes zum Nachdenken. Dorsten

 

2002