Die Seherin vom Galgenberg
Die meisten Jahre ihres sechsundzwanzigjährigen Lebens waren für Katharina hart gewesen. Oft war sie unglücklich, gar verzweifelt. Solange sie denken konnte, war sie Magd bei Bauer Kiekenbeck, der einen der größten Höfe der Gegend hatte. Es war ein schöner Hof, gerade nordwestlich der Stadtmauern Dorstens in den Lippeauen gelegen, mit ertragreichen Böden, satten Weiden und einem reichen Viehbestand. Das Wohnhaus und die Ställe waren neu, vor einer Generation nach dem großen Krieg, den man den Dreißigjährigen nannte, wieder aufgebaut. Ihre Mutter war schon Magd auf dem Hof gewesen, doch sie war im Alter von siebzehn Jahren im Kindbett gestorben. Das Kind, das mit knapper Not überlebte, nannte man nach ihrer Mutter, Katharina. Der Bauer, Leo Kiekenbeck, war streng. Katharina musste schon früh überall mit anfassen, im Stall, auf dem Feld und in der Scheune. Sie war ein hübsches Mädchen, und als sie gerade zwölf Jahre alt war, nahm der Bauer sie das erste Mal als Frau. Das Kind, das neun Monate später zur Welt kam, verlor sie durch "die schwarze Seuche", wie der Arzt bei der Leichenschau feststellte. Sie durfte es nicht auf dem Kirchhof beerdigen, denn es war ein Kind der Sünde, und man verachtete sie dafür. Doch der Bauer ließ sie nicht in Ruhe. Ein Jahr später wurde sie wieder schwanger. Mitten im Winter gebar sie einen Sohn. Das Baby überlebte die Geburt, bei der eine andere Magd half, denn eine Hebamme wollte der Bauer nicht hinzuziehen. Das Baby litt an schrecklichem Husten, der Arzt aber verweigerte seine Hilfe, da Katharina ihn nicht bezahlen konnte. Zwei Wochen später starb der Kleine, weil sie ihre kleine Kammer, die sie sich mit zwei anderen jungen Mägden teilte, nicht heizen durfte. Der Pfarrer ließ sich nicht zu einem christlichen Begräbnis erweichen, da auch dieses Kind in Schande geboren war.
Traurig ging Katharina des Sonntags, wenn der Bauer mit seiner Familie in der Kirche war, zu den zwei kleinen verwitterten Kreuzen, und beweinte die beiden Kinder, die sie immer noch so sehr liebte.
Der Bauer ließ sie nun in Ruhe, denn sie kümmerte sich, nach der Geburt seiner siebten Tochter, unter Aufsicht der Bäuerin um die jüngeren Kinder. Von morgens bis abends war sie nun von zwei kleinen Jungen und vier kleinen Mädchen umgeben. Nur der älteste Sohn, Johannes, der zwei Jahre älter war als sie selbst, ging seine eigenen Wege. Ab und zu, wenn sie einmal eine Pause hatte, setzte er sich zu ihr und erzählte ihr von seinen Sorgen. Er verstand sich nicht besonders gut mit seinem Vater; trotz seiner Jugend hatte er bereits ganz andere Vorstellungen von der Führung des Hofes, aber sein Vater duldete keinen Widerspruch. Manchmal erzählte er ihr auch eine kleine Geschichte, die er sich ausgedacht hatte. Katharina hörte dann immer gebannt zu. Wie schön er sprach, dachte sie, und bald sah sie ihn mit ganz anderen Augen als all die anderen Jungen.
Sie bewunderte sein braunes Haar, seine blauen Augen, seine sanfte Stimme und seine kräftige, männliche Gestalt. Bald lehnte sie sich an ihn, wenn er eine Geschichte erzählte, und er strich, während er sprach, gedankenverloren durch ihr Haar. Sie spürte seine Wärme und seine Zuneigung. Katharina und Johannes wurden ein Paar.
Es dauerte nicht lange, bis der Bauer hinter ihr Geheimnis kam. Er missbilligte die Freundschaft der Beiden, denn Katharina hatte nichts zu bieten. Die Magd war nahe daran, des Hofes verwiesen zu werden, wenn nicht die Bäuerin, die ihren Sohn über alles liebte, überraschend Partei für sie ergriffen hätte. Von Stund an mussten die beiden noch mehr achtgeben, wenn sie sich trafen. Ihre Verzweiflung wuchs, denn Johannes konnte sich keine andere Frau vorstellen.
Einige Monate später erlitt der Bauer einen Unfall. Er stürzte vom Heuboden herunter und verletzte sich an der Heugabel, die seine Hand durchbohrte. Der zu Hilfe gerufene Arzt ließ den Patienten zur Ader und verordnete eine Trinkkur
In der Tat schien die Wunde gut zu verheilen, doch eine Woche später entzündete sich die Wunde wieder. Der Arzt verschrieb seine beste Medizin, ein Pulver aus den Gebeinen des heiligen Ludger, aber die Entzündung ließ sich nicht aufhalten und wurde zum gefürchteten Brand. Ein Chirurgus trennte die Hand ab, es war jedoch zu spät. Drei Tage später verschied der Bauer nach dem Empfang der letzten Ölung im Kreise der Familie.
Nun rückte Johannes als Ältester an seine Stelle. Er übernahm den Hof, bestellte die Felder, kümmerte sich um das Vieh, brachte mit allen Knechten und Mägden die Ernte ein und richtete der Mutter, die mit einundvierzig Jahren ohnehin an der Schwelle zum Greisenalter stand, in einem Nebengebäude das Altenteil ein. Seine Nachbarn und Freunde nahmen mit Genugtuung wahr, dass er mit Fleiß und Können den Hof zu neuer Blüte brachte. Doch noch immer war Johannes unverheiratet. Seine Freunde tuschelten schon: „Das mit der Magd war wohl doch nicht so ernst". Es tue not, dass er ein Weib habe, allein könne er Haus und Hof nicht führen, stellten sie mit Entschiedenheit fest. Und so kam es, dass Johannes sich eines Tages seiner Katharina erklärte und um ihre Hand anhielt. Natürlich willigte sie ein, sie liebte ihren Johannes von ganzem Herzen. Die Hochzeit sollte am Heiligen Abend stattfinden, und Johannes wollte dafür eine besonders prächtige Messe stiften.
Der Tag kam, und alle waren seit der Morgendämmerung aufs äußerste damit beschäftigt, den Hof herauszuputzen und die große Scheune für das große Fest vorzubereiten. Kurz vor Mittag ließ Johannes seine beste Stute satteln, denn er wollte von seinem Freund, dem Lembecker Bauern Heilmann das „Albrechts-Kreuz" holen, eine in Ehren gehaltene, während der Bauernkriege vor weit über hundert Jahren vom Erzbischof von Mainz geweihte Monstranz, die dem Paar Glück und Segen bringen sollte.
„Ich bin in zwei Stunden wieder zurück", rief Johannes und stob davon. Katharina war es nicht wohl. Der Schnee lag hoch und die Luft war kalt, was konnte da nicht alles passieren! Und tatsächlich, kaum eine halbe Stunde später trabte die Stute auf den Hof ohne Johannes im Sattel. Der Stallbursche stellte fest, dass ein Riemen gerissen war. Johannes musste gestürzt sein und war nun wohl zu Fuß unterwegs. Katharina schickte alle Knechte los, sie sollten nach Johannes suchen und ihn zurückbringen. Als sie ihn nach zwei Stunden immer noch nicht gefunden hatten, alarmierten sie die Nachbarn, die sich mit zahlreichen Reitern an der Suche beteiligten. Doch umsonst! Johannes blieb verschwunden! Katharina war verzweifelt. Wo war ihr Johannes. Sicher war er verletzt und wartete sehnsuchtsvoll auf Rettung. Was sollte sie tun?
Da erinnerte sie sich an eine alte Sage, die ihr einst die alte Bäuerin erzählt hatte.
Vor vielen, vielen Jahren, noch zu der Zeit, als die Römer in der Gegend von Dorsten waren, lebte Veleda, eine alte würdige Seherin, auf einem Berg nicht weit von der Lippe. Sie erschien allerdings nur demjenigen, der in Not und reinen Herzens war. Menschen, die durch ihre Auskünfte anderen schaden wollten, mussten sich hüten, ihr zu begegnen, denn ihr böses Vorhaben richtete sich gegen sie selbst. Als allerdings später auf dem Berg eine Richtstätte mit einem Galgen eingerichtet wurde, erschien sie nicht mehr. Niemand traute sich auf den Galgenberg, denn es wurde erzählt, dass die Toten, ohne Salbung und kirchlichen Segen in der Erde verscharrt, nur auf ein armes Opfer warteten, dessen Unglück sie befreien würde.
Katharina zögerte. Sie fürchtete sich vor dem unheimlichen Ort, und es war nicht unwahrscheinlich, dass sie dort umkommen würde, wie die alte Bäuerin sie warnte. Die Liebe zu Johannes war aber stärker als alle Bedenken, und so nahm sie ihr Kreuz in die Hand und machte sich auf, obwohl es inzwischen schon dunkel geworden war.
Als sie dem Berg näher kam, meinte sie, die Toten rufen zu hören. Streckte ihr da nicht einer der Unglücklichen seine knochige Hand entgegen? Rief dort nicht eine klagende Stimme um Hilfe? Bald fühlte sie sich von unheimlichen Wesen umgeben. Fest krampften sich ihre Hände um das Kreuz. „Jesus Christus, hilf", murmelte sie, und plötzlich wurde es hell. Sie sah ein großes prasselndes Feuer, in seinem Schein bemerkte sie silhouettenhaft eine mächtige Gestalt in einem weißen Kleid. Katharina spürte, wie die Person sie ansah, wie sie sie bis ins Innerste musterte. Und plötzlich wurde ihr klar, wo sie suchen musste. Sie sah Johannes vor sich, mit verletztem Fuß an einem Bach liegend, von Schnee bedeckt.
Überwältigt schloss sie einen Moment lang die Augen. Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit durchströmte sie. Ja, das ist Veleda, dachte sie, sie hat mir geholfen. Nun vollständig ohne Angst öffnete sie die Augen, um sich bei der Seherin zu bedanken. Aber was war das? Dunkelheit umfing sie. Das Feuer war erloschen und mit ihm die Gestalt im weißen Kleid. „Geh! Geh schnell!" hörte sie eine Stimme in sich. Da lief sie den Berg hinunter so schnell sie konnte, rief die Knechte und führte sie ohne zu zögern an eine Stelle des Wienbaches, an dem das Ufer sich ein wenig erhob. Die Knechte schaufelten mit bloßen Händen den Schnee zur Seite, und da, da lag Johannes! Er bewegte sich leicht und murmelte etwas vor sich hin. „Katharina!" hörten die Knechte, „Katharina!" Sie wickelten ihn in warme Decken, schnallten ihn aufs Pferd und brachten ihn so schnell wie möglich auf den Hof, wo ein warmes Bad auf ihn wartete.
Eine Stunde später erzählte er, was ihm widerfahren war. Es war auf dem Rückweg, als die Stute strauchelte und ihn abwarf. Kopfüber stürzte er auf den Bach zu. Wäre nicht das Kreuz gewesen, das sich in einer Wurzel verfangen hatte, wäre er in den Bach gestürzt und erfroren.
Katharina und Johannes heirateten noch am selben Tag in einer ergreifenden Zeremonie.
Sie lebten weiter viele Jahre, doch einmal im Jahr, am Heiligen Abend, fuhren sie nach Lembeck und dankten Gott unter dem Albrechts-Kreuz für die wunderbare Rettung. (Werner Wenig)
Literatur:
Edelgard Moers (Hrsg): Andere Dorstener Geschichten. Dorsten 2005. Seite
162 ff.
Liste der Preisträger:
Gruppe der 17-20jährigen
1.Preis Michel Lee Flamme des Lebens
2.Preis Pauline Bartling Erbarmungslos
3. Preis Anja Greuel Hinter dem Lächeln
4.Preis Nicole Herner Unvorstellbar
4.Preis Philipp Hallbauer Poetry Slum
4.Preis Sophia Benning Zwanzig Dinge…
Gruppe der 13-16 Jährigen
1.Preis Anna Plümpe Loslassen
1.Preis Jette Tewes Sinn
2.Preis Edda Emilia Wasserbauer Berechenbar unberechenbar
2. Preis Isabel Paasch Maybe tomorrow
3.Preis A. Michelle Guski Stillstand
3.Preis Franca Beckmann Zufriedenheit
Gruppe der 8-12 Jährigen
1.Preis Lena Marie Micheel Grüne Zauberwelt
1.Preis David Minor Mein geheimnisvoller Ball
2.Preis Linda Bernsmann Die Kinder
3.Preis Sophie Minor Meine Verabschiedung
3.Preis Maximilian Hoppe Der Sommer
Sonderpreis
25 Schüler und Schülerinnen der Klasse 6a der Realschule
St. Ursula Dorsten
Schüler der 5. Klasse der Europa Schule Martin Luther in Herten
Sondergruppe Politisches Gedicht
1.Preis Daniel Gruber Die Würde
2.Preis Leandra Kuchenbäcker Unserer schönen Demokratie
3.Preis Max Venghaus Grau
4.Preis Sabeth Maria Dugdale 10 Sekunden der Welt
Sonderpreis englisches Gedicht
1.Preis Junis Bauer In the forest