Das zweite Gesicht.
„Du, Mutter, morgen Abend ist in Lembeck Landjugendfest. Da will ich hingehen.“
„Ist in Ordnung. Ich fahr dich und hol dich auch wieder ab.“
So was Blödes. Jetzt ist sie schon wieder die überbesorgte Mutter. Ich bin wirklich alt genug; dies ständige Bringen und Holen muss ein Ende haben. Ich bin doch kein Kleinkind mehr, denkt Mareike. „Du, Mutter, das ist nicht nötig. Ich geh mit ein paar Freunden hin und wir nehmen die Fahrräder. Durch die Wulfener Heide geht es ganz schnell von Alt Wulfen nach Lembeck. Du brauchst Dir keine Sorgen machen.“
Die Mutter hält Mareike am Arm fest. „Im Dunkeln durch die Heide, da soll ich mir keine Sorgen machen. Wie stellst Du dir das nur vor. Glaub mir, meine Sorgen sind berechtigt. Setz dich bitte kurz zu mir, ich will dir erzählen, warum. Ich bin bestimmt nicht abergläubig, aber seitdem mir meine Mutter von ihren Erlebnissen in der Wulfener Heide während des Krieges erzählt hat, läuft mir beim Gedanken an die Heide immer ein eiskalter Schauer den Rücken herunter.
Es war am Ende des Krieges, noch vor meiner Geburt. Es hatte immer mehr Fliegerangriffe auf Dorsten gegeben. Sogar das kleine Wulfen wurde nicht verschont. Die Männer hatten in der Heide einen „Schutzbunker“ gebaut aus einem großen Loch in einer Sandkuhle, verstärkt mit Baumstämmen und gedeckt mit Tannenzweigen. Als es nun immer gefährlicher für die Bevölkerung wurde, wurden Pferde vor einen Wagen gespannt und einige Frauen und Kinder damit in die Heide gefahren. Meine Mutter gehörte dazu. Alle versteckten sich in dem engen Schutzloch in der Heide und warteten die Angriffe ab.
Nach einiger Zeit, als es wieder ruhig am Himmel geworden war, verließ meine Mutter, damals ein junges, sehr wagemutiges Mädchen, die anderen und wollte sich in der Heide ein wenig umsehen. Trotz der lebhaften Proteste der Frauen entfernte sie sich immer weiter von den anderen. Bald schon hatte sie sich verirrt. Mutig suchte sie in der einbrechenden Dunkelheit den Weg zurück nach Alt-Wulfen, denn die Schutzhütte würde sie auf keinen Fall mehr wieder finden.
Es war sehr unheimlich im Wald. Es knackte und knarrte von allen Seiten und plötzlich hörte sie die Stimmen von sich streitenden Menschen. Sie rannte in diese Richtung und sah auf einem Heidefeld zwei seltsame Figuren: Da stand ein kleines Männlein, nicht größer als einen Fuß mit einem langen Bart, der ihm bis zur Erde reichte und graugrün schimmerte wie das Moos auf den alten Bäumen. Sein Gegenüber war ein älterer Mann, mit einer Elle, Schere und Bügeleisen bewaffnet. Auf seinen Rücken hing ein fester, dicker Sack. Diese beiden stritten sich bitterlich. Das Männlein tanzte um den Schneider herum und schrie erbärmlich. Der Schneider versuchte immer wieder, das kleine Männlein an seinem Bart zu erwischen. Gelang es ihm, so schnitt er mit seiner langen Schere den Bart ab.
Sobald er aber dies geschafft hatte, verwandelte sich das Männlein in ein schwarzes Tier mit glühenden Augen, das dem Schneider wie ein Blitz auf den Rücken sprang. Zu Tode erschrocken, fiel der Schneider zu Boden. Meine Mutter erzählte, dass sich dieser seltsame Kampf vor ihren Augen immer wieder wiederholte.
Sie habe fasziniert dem Geschehen lange zugeschaut, bis plötzlich das kleine Männchen ihrer gewahr wurde und sie anherrschte: „Was willst du denn hier. Kann man sich nachts hier auf der Heide nicht einmal in Ruhe streiten?!“
Stotternd berichtete sie ihm, dass sie sich verlaufen habe, plötzlich ganz sicher wissend, dass von dem kleinen Mann keine Gefahr ausgehen würde. Und richtig, mit einem wiehernden Lachen wandte sich der kleine Mann an seinen Kontrahenten mit den Worten: „Schneider, du kriegst mich heute nicht, denn ich habe etwas Besseres zu tun. Morgen erwarte ich dich wieder hier in der Heide.“ Dann hüpfte er vor meiner Mutter her und kurz danach fand sie sich vor dem Elternhaus
in Alt-Wulfen wieder. Gott sei Dank habe es noch unversehrt dagestanden und der Vater sei auch dort gewesen. Als sie sich bedanken wollte, war der kleine Mann verschwunden.
Als meine Mutter mir diese Geschichte erzählte, habe ich damals nur gelacht und gesagt, lass mich in Ruhe mit diesen Spökenkiekengeschichten. Da sagte sie nur, wissend lächeln: „Wart es ab, in unserer Familie haben immer wieder Frauen das zweite Gesicht. Ich gehör dazu und auch deine Tochter, die du eines Tages haben wirst, wird es haben.“
Mir war unheimlich. Ich habe nie wieder mit meiner Mutter darüber gesprochen. Und überhaupt, ich glaube nicht an solche Spukgeschichten. Doch es war mir immer gruselig, wenn ich durch die Heide fahren musste. Und aus diesem Grund möchte ich nicht, dass du morgen mit dem Fahrrad den Weg durch die Heide nimmst.
Mareike lachte. „Ach Mutti, du bist schon komisch! Willst du mich mit solchen absurden Spukgeschichten beeindrucken? Die Geschichte kenne ich doch. In der Schule haben wir sie in einem alten Heimatkalender gelesen. Das ist die Geschichte vom „Woachtmännlein“. Da hat dich deine Mutter aber mächtig auf den Arm genommen!“
Am nächsten Abend wurde Mareike mit lautem Fahrradgeklingel von ihren Freunden abgeholt. Der Mutter blieb nichts anderes übrig, als resigniert zu lächeln und ihr einen guten Abend zu wünschen.
Der Abend wurde aber nicht so toll, wie Mareike es sich erhofft hatte. Ihre beste Freundin hatte plötzlich nur noch Augen für einen jungen Mann, der auch Mareike gut gefallen hatte. Auch die anderen waren sehr beschäftigt, so dass Mareike kurz entschlossen ihr Fahrrad nahm und sich allein auf den Rückweg durch die Heide begab.
Es war sehr dunkel, das Unterholz im Wald knackte und auf dem Weg tanzten Schatten im Mondlicht. Im Sommer war sie gern in der Heide, wenn es so würzig duftete, aber jetzt war es eine recht ungemütliche Gegend. Plötzlich verfing sich ihr Rad in einer Wurzel; sie kam ins Straucheln und fiel vom Fahrrad. Au, das hatte sehr weh getan. Sie stand mühsam auf, um festzustellen, dass ein Reifen noch dazu einen Platten hatte. Nun musste sie ihr Rad schieben und kam noch langsamer voran. Heute ging aber auch alles schief.
Da, dort vorn auf einer Lichtung bewegte sich etwas. Sie ging darauf zu. Es waren zwei Gestalten, die um einander herum zu tanzen schienen. Je mehr sie sich ihnen nähern wollte, desto weiter schienen diese von ihr fort zu ziehen. „Hallo, wer ist dort?“ rief sie laut hinaus und als Echo konnte sie jetzt streitende Stimmen hören. Wenigstens waren diese Personen stehen geblieben. Plötzlich wurde es sehr viel heller durch das Mondlicht und sie erkannte die zwei Figuren aus der Geschichte aus dem Heimatkalender: das kleine Männchen und den Schneider, bewaffnet mit Schere, Elle und Bügeleisen. „Halt, Stopp. Hört auf zu streiten“, rief sie. Der Schneider drehte sich empört zu ihr um und schimpfte „Immer muss sich einer von euch Frauen einmischen. lasst uns doch in Ruhe. Ich muss diesen verdammten Bart endlich erwischen. Warte nur, den schneid ich dir ab!“ drohte er dem kleinen Mann. Dieser rief dem Mädchen zu: „Dreh um, du bist in die falsche Richtung gelaufen, dreh um und folge dem Mondschein, dann bist du auf dem richtigen Weg.“ Sodann erhob er sich brüllend und sprang, in ein schwarzes Ungeheuer verwandelt, dem Schneider ins Genick.
Mareike erschauderte und drehte wie befohlen um. Bald schon kam sie zuhause an. Ihre Mutter war sehr erstaunt, dass ihre Tochter so ungewohnt früh ankam und wollte wissen, was los sei. Mareike murmelte etwas wie „habe Kopfschmerzen, lege mich gleich hin“ und verschwand in ihrem Zimmer.
Als sie kurz darauf in ihrem Bett lag, konnte sie lange nicht einschlafen. Vieles ging ihr durch den Kopf. Das war schon sehr seltsam heute, was sie gehört und erlebt hatte. Ob sie wohl das „zweite Gesicht“ vererbt bekommen hatte, wie ihre Großmutter es prophezeit hatte?
Ach Unsinn, sie hatte sich nur von der Fantasie forttreiben lassen. (Heike Wenig)
Literatur:
Edelgard Moers (Hrsg): Andere Dorstener Geschichten. Dorsten 2005. Seite
176 ff.
Liste der Preisträger:
Gruppe der 17-20jährigen
1.Preis Michel Lee Flamme des Lebens
2.Preis Pauline Bartling Erbarmungslos
3. Preis Anja Greuel Hinter dem Lächeln
4.Preis Nicole Herner Unvorstellbar
4.Preis Philipp Hallbauer Poetry Slum
4.Preis Sophia Benning Zwanzig Dinge…
Gruppe der 13-16 Jährigen
1.Preis Anna Plümpe Loslassen
1.Preis Jette Tewes Sinn
2.Preis Edda Emilia Wasserbauer Berechenbar unberechenbar
2. Preis Isabel Paasch Maybe tomorrow
3.Preis A. Michelle Guski Stillstand
3.Preis Franca Beckmann Zufriedenheit
Gruppe der 8-12 Jährigen
1.Preis Lena Marie Micheel Grüne Zauberwelt
1.Preis David Minor Mein geheimnisvoller Ball
2.Preis Linda Bernsmann Die Kinder
3.Preis Sophie Minor Meine Verabschiedung
3.Preis Maximilian Hoppe Der Sommer
Sonderpreis
25 Schüler und Schülerinnen der Klasse 6a der Realschule
St. Ursula Dorsten
Schüler der 5. Klasse der Europa Schule Martin Luther in Herten
Sondergruppe Politisches Gedicht
1.Preis Daniel Gruber Die Würde
2.Preis Leandra Kuchenbäcker Unserer schönen Demokratie
3.Preis Max Venghaus Grau
4.Preis Sabeth Maria Dugdale 10 Sekunden der Welt
Sonderpreis englisches Gedicht
1.Preis Junis Bauer In the forest