Das unheimliche „Wellken“
Paule fuhr mit seinem Mofa in der Dunkelheit von seinem Wohnort nach Dorsten. Er war wieder einmal klamm bei Kasse und musste sich irgendetwas einfallen lassen, wie er zu Geld kommen konnte. Das bedeutete bei ihm aber nicht, dass er sich um Arbeit bemühen würde; nein, davon hatte er noch nie etwas gehalten. Etwas Richtiges hatte er auch nicht gelernt. Dumm war er eigentlich nicht, eher faul.
Aufgewachsen war er in Dorsten am Rande der Orthöve bei seinen Großeltern. Sein Großvater hatte einen kleinen Kotten besessen. Mit seiner Hände Arbeit hatte dieser trotz seiner Kriegsverletzung, die noch aus dem ersten Weltkrieg stammte, dafür gesorgt, dass immer genügend für seine Frau und den Enkelsohn zum Leben da gewesen war. Paules Vater war im zweiten Weltkrieg in Russland gefallen. Er hatte keine Erinnerung mehr an ihn, er war damals erst zwei Jahre alt. Seine Mutter hatte ihn kurz nach dem Krieg bei den Großeltern zurückgelassen und war einem amerikanischen Soldaten in dessen Heimat gefolgt. Anfangs hatte sie noch geschrieben und dann und wann ein Paket geschickt, aber später war der Kontakt einfach abgerissen.
An seinem Großvater hatte er sehr gehangen. Wie oft hatte er abends mit ihm vor dem Kotten auf der Bank gesessen. Der Großvater hatte seine Pfeife angezündet und ihm Geschichten erzählt, die von alters her in der Familie weitergegeben wurden. Eine schöne Zeit war das damals.
Seit die Großeltern gestorben waren, hatte sich sein Leben sehr geändert. Er hauste in einer Einzimmerwohnung mitten im Ruhrpott und lebte die meiste Zeit von kleineren Betrügereien und Einbrüchen, selten einmal von Gelegenheitsarbeit. Dann und wann hatte er sich von Frauen aushalten lassen, die viel zu gutmütig und vor allem allein waren und ihn mit durchfütterten. In der letzten Zeit musste er mehr aufpassen, weil ihn an seinem Wohnort die Polizei im Visier hatte. Deshalb schien auch nichts mehr zu klappen, nicht einmal in der Kneipe anschreiben durfte er noch.
So war er auf die Idee gekommen, einen größeren Einbruch in dem Ort seiner Kindheit durchzuführen. Mehrmals war er in Dorsten in der Orthöve gewesen und hatte die Häuser beobachtet und die Gewohnheiten der Menschen, die dort lebten, ausgekundschaftet. Wenn er dann im Dunkeln mit seinem Mofa auf dem Heimweg war und durch das Waldgebiet ganz dicht bei der Orthöve fuhr, war ihm jedes Mal sehr seltsam zumute. Der Wald sah aus, so wie er sich einen Urwald vorstellte und der Boden wirkte ganz morastig.
Gestern Abend war ihm dann diese alte Geschichte, die der Großvater immer erzählt hatte, wieder eingefallen:
Der Krieg war vorbei und lichtscheues Gesindel zog durch das Land. Auch die Bauernschaften in der Orthöve mussten daran glauben. Plünderer überfielen die Höfe, raubten die Bauern aus und mordeten. Als sie von einem Hof zum nächsten reiten wollten, um auch dort ihr übles Treiben auszuführen, warnte der überfallene Bauer diese noch davor, nicht auf dem direkten Weg hinüberzureiten, weil zwischen den beiden Höfen das „Wellken“ läge, ein sumpfiges Moorgelände, das bisher noch keiner lebend durchquert hätte. Die Räuber ließen den Bauern, wie berichtet, am Leben, schlugen aber seine Warnung in den Wind und ritten los. Im „Wellken“ angekommen, scheuten ihre Pferde. Durch Peitschenhiebe angetrieben, stoben sie dann vorwärts auf den wankenden Boden und versanken mit Reitern und allem Geraubten im Moor, das immer tiefer seine Opfer in seine gierigen Arme zog. Niemals ist wieder etwas von ihnen ans Tageslicht gekommen.
Der Großvater hatte Paule besonders gern und oft diese Geschichte erzählt. Ob er wohl etwas ahnte, was an räuberischen Anlagen in Paule steckte.
Als Paule jetzt im Dunkeln zur Orthöve fuhr, schob er alle dunklen Gedanken beiseite und konzentrierte sich ganz auf sein Vorhaben. Die Leute, dessen Haus er ausgesucht hatte, waren heute Morgen verreist. Das hatte er selbst gesehen. Eine Alarmanlage gab es auch nicht in dem Haus und die Fenster waren schon älter, so dass es mit dem Einsteigen sehr gut klappen müsste.
So war es auch. Ohne große Probleme drang er ungesehen in das Haus ein, fand sehr schnell den Schreibtisch, wo alle Sparbücher und auch noch eine große Anzahl von Barschecks lagen. Im Schlafzimmer hatte die Hausfrau fast den gesamten Schmuck dagelassen. Er hatte ein großes Glücksgefühl und bedauerte nur, dass er die wertvollen Teppiche zurücklassen musste, aber die konnte er nun wirklich nicht auf seinem Mofa transportieren. Der ganze Einbruch hatte nicht lange gedauert und schon war er auf dem Rückweg.
In der Zwischenzeit war dichter Nebel aufgekommen. Er konnte die Hand kaum vor den Augen sehen. Und wenn er sich umsah, wurde ihm ganz unheimlich zumute. Der Wald war wirklich ein Urwald. Er wollte schnell weiter fahren, aber der Motor seines Mofas stolperte und setzte dann ganz aus. Pferdegeklapper hörte er, immer deutlicher. Er stieg vom Mofa und versteckte sich im Gestrüpp. Aus dem Nebel kamen drei Reiter heran galoppiert, die Pferde scheuten, aber die Reiter hieben auf sie ein und zwangen die Tiere zum Weiterritt. Sie stoben die Böschung hinunter, der Nebel tat sich auf und er konnte sehen, wie Pferd und Reiter, alle drei, im Morast versanken und die Erde über ihnen wieder zusammenschlug.
Er hörte laut und deutlich die Stimme seines Großvaters: Da siehst du, was mit solch wilden Gesellen passiert. Da, schon wieder kamen drei Reiter auf Pferden aus dem Nebel heran galoppiert und vor seinen Augen wiederholte sich das gleiche grausame Spiel. Und wieder und immer wieder kamen die Reiter heran galoppiert.
Verzweifelt, voller Panik rannte er los. Nur weg von hier von diesem unheimlichen Ort. Das Mofa, beladen mit seiner Beute, war vergessen. Er rannte und rannte, merkte, wie auch er die Böschung hinunter geriet und im Moor versank. Seine verzweifelten Rettungsversuche beschleunigten noch das unvermeidliche, schreckliche Ende.
Ein Spaziergänger, der mit seinem Hund unterwegs war, bemerkte das verwaiste Mofa am Straßenrand. Wenn aber sein Hund nicht so stark in das naheliegende Gebüsch gezogen hätte, wäre er wohl weitergegangen. So aber fand er den Toten, der sich mit beiden Händen tief in den Boden gekrallt hatte. Sein Gesicht trug noch im Tode einen Ausdruck des Entsetzens. (Heike Wenig)
Literatur:
Edelgard Moers (Hrsg): Neue Dorstener Geschichten
Liste der Preisträger:
Gruppe der 17-20jährigen
1.Preis Michel Lee Flamme des Lebens
2.Preis Pauline Bartling Erbarmungslos
3. Preis Anja Greuel Hinter dem Lächeln
4.Preis Nicole Herner Unvorstellbar
4.Preis Philipp Hallbauer Poetry Slum
4.Preis Sophia Benning Zwanzig Dinge…
Gruppe der 13-16 Jährigen
1.Preis Anna Plümpe Loslassen
1.Preis Jette Tewes Sinn
2.Preis Edda Emilia Wasserbauer Berechenbar unberechenbar
2. Preis Isabel Paasch Maybe tomorrow
3.Preis A. Michelle Guski Stillstand
3.Preis Franca Beckmann Zufriedenheit
Gruppe der 8-12 Jährigen
1.Preis Lena Marie Micheel Grüne Zauberwelt
1.Preis David Minor Mein geheimnisvoller Ball
2.Preis Linda Bernsmann Die Kinder
3.Preis Sophie Minor Meine Verabschiedung
3.Preis Maximilian Hoppe Der Sommer
Sonderpreis
25 Schüler und Schülerinnen der Klasse 6a der Realschule
St. Ursula Dorsten
Schüler der 5. Klasse der Europa Schule Martin Luther in Herten
Sondergruppe Politisches Gedicht
1.Preis Daniel Gruber Die Würde
2.Preis Leandra Kuchenbäcker Unserer schönen Demokratie
3.Preis Max Venghaus Grau
4.Preis Sabeth Maria Dugdale 10 Sekunden der Welt
Sonderpreis englisches Gedicht
1.Preis Junis Bauer In the forest