Spuk am Kanal
„Tschüss, bis morgen in der Schule.“ Schnell schwang Julia sich auf ihr Fahrrad und machte sich auf den Weg nach Hause. Sie hatte sich verspätet, hatte zu lange mit der Freundin geklönt. Jetzt war es bereits dunkel. Sie entschied sich, den kürzesten Weg zu nehmen am Kanal entlang. Sie war schon oft hier entlang gefahren und hatte keine Angst.
Eifrig trat sie in die Pedalen, um vorwärts zu kommen. Der Weg am Wasser entlang wurde immer nebliger. Sie konnte kaum etwas sehen und musste sehr langsam fahren. Kälte kroch über ihren Rücken. „Nur zu, du bist doch kein Angsthase“, versuchte sie sich Mut zu machen. Irgendwie war heute alles anders als sonst, viel unheimlicher. Wäre sie doch nur durch die Stadt gefahren. Aber dann hätte es eine Standpauke von ihrer Mutter gegeben, weil sie schon wieder die Uhr nicht im Kopf behalten hatte.
Der Nebel war inzwischen so dicht, dass sie absteigen und das Fahrrad schieben musste. War sie der einzige Mensch, der noch unterwegs war? Wieso kamen ihr keine Leute entgegen? Sie fühlte sich sehr allein. Es herrschte auch eine ungewohnte Stille. Nur hin und wieder wurde die Stille durch lautes Platschen des Wassers durchbrochen. Ob da ein Schiff auf dem Kanal fuhr? Aber eigentlich kann das nicht sein, oder? Sie wurde unsicher. Ob sie wohl mal unten am Wasser nachsehen sollte?
Da, jetzt tauchten vor ihr blaue funkelnde Lichter auf. Also doch, da kamen ihr gleich andere Leute entgegen. Sie war erleichtert und schob ihr Fahrrad weiter. Aber seltsam, die Lichter bewegten sich hin und her, auf und nieder und schienen immer im gleichen Abstand vor ihr zu sein.
Hoppla, jetzt wäre sie beinahe gestrauchelt, weil sie sich von den tanzenden Lichtern hatte ablenken lassen und vom Weg abgekommen war. Sie lenkte ihr Fahrrad wieder auf den Weg zurück und verfluchte den Einfall, diese Abkürzung genommen zu haben. Und zu spät kam sie jetzt sowieso nach Hause.
Tapfer ging sie weiter, entschlossen, sich durch nichts mehr ablenken zu lassen. Sie wollte nur noch nach Hause. Da, rief da nicht jemand? Es erklang eine leise, flehende Stimme: „Hilf mir, bitte, hilf mir.“ Ach Unsinn, das bildest du dir nur ein. Energisch schüttelte sie den Kopf und versuchte, nicht mehr hin zu hören, doch die Stimme wurde immer eindringlicher: „Hilf mir, hilf mir!“ „Hallo, wer ist da? Wo sind sie?“ Kurze Zeit herrschte Ruhe, dann fing die Stimme wieder an, erst leise, dann lauter: „Hilf mir, komm zu mir!“
Julia hielt an und überlegte: „Was soll ich tun. Einfach weiter zu gehen, bedeutet doch unterlassene Hilfeleistung. Ich muss doch nachschauen, wenn da ein Mensch in Not ist.“ Vorsichtig legte sie ihr Fahrrad auf den Boden und kletterte den kleinen Trampelpfad zum Kanal hinunter. Sie konnte im kläglichen Schein ihrer kleinen Taschenlampe keine Frau sehen, aber noch immer rief die jammernde Frauenstimme: „Hilf mir, komm zu mir hinunter!“ Sie war gerade im Begriff, sich nach vorn über das Wasser zu bücken, als sie plötzlich die Stimme ihrer Großmutter im Ohr hatte: „Halt! Vorsicht!“
Sie zuckte zusammen und schaute umher. Was hatte sie da grad tun wollen. Der Nebel hatte sich gelüftet und sie konnte ihre Umgebung deutlich erkennen. Sie erschrak. Niemand war zu sehen, aber sie wäre um ein Haar in den Kanal hineingefallen.
Die lockende Stimme war verstummt. Auch die tanzenden Lichter waren erloschen. Es schauderte sie. War sie einem Spuk beinahe zum Opfer gefallen? Nachdenklich kletterte sie das Kanalufer wieder hoch, nahm ihr Fahrrad und stieg auf. Es war wieder so viel Sicht, dass sie nun zügig nach Hause fahren konnte.
Daheim wartete die Mutter, inzwischen nicht mehr verärgert über die unpünktliche Tochter, sondern sehr besorgt.
Julia warf sich ihrer Mutter in die Arme.
Ihre Anspannung löste sich, ein paar Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie ihrer Mutter die seltsame Geschichte erzählte, die sie gerade erlebt hatte. Hoffentlich lachte ihre Mutter sie nicht aus.
Nein, als sie die Mutter am Ende ihrer Erzählung ansah, hatte diese einen ganz merkwürdigen Gesichtsausdruck. „Komm her, mein Kind“, sagte sie. „Lass dir etwas erzählen. Ich lache dich nicht aus, ich nehme deine Geschichte sehr ernst.
Vor einigen Jahren, als deine Großmutter noch lebte, erzählte sie mir, weil sie wohl merkte, dass ihre Zeit bald vorbei sein würde, eine merkwürdige Begebenheit, die sie am Ende des Krieges erlebt hatte.
Dorsten war noch kurz vor Kriegsende ein Opfer der feindlichen Bomber geworden. Die Stadt brannte. Das Haus, wo die Großmutter mit mir als Kind gewohnt hatte, war dem Erdboden gleich gemacht worden. Sie hatte mit mir in einem kleinen Keller in der Nähe der Kirche während des Bombenangriffes Zuflucht genommen und so überlebt. Mein Vater war an der Front und meine Mutter hatte schon seit Monaten nichts mehr von ihm gehört. So beschloss sie, mit mir Dorsten zu verlassen und sich irgendwie zu ihren Eltern nach Wesel durch zu schlagen.
Andere warnten sie, nicht in diese Richtung zu gehen, weil dort doch die feindliche Front sei, aber es zog sie zu ihren Eltern. So nahm sie mich an die Hand und wanderte am Kanal entlang Richtung Wesel.
Ich war noch sehr jung und habe keinerlei Erinnerung daran. Sie erzählte weiter, wie mühselig der Weg war, dunkel und neblig. Es war März genau so wie jetzt. Und dann, stell dir vor, dann hat deine Großmutter das Gleiche erlebt wie du heute. Und auch die Stimme ihrer Großmutter hatte sie damals davor bewahrt, dem Lockruf der klagenden Frau in den Kanal hinein zu folgen. Ich wollte das damals nicht als wahre Geschichte verstehen und tat es ab als Phantastereien einer alten Frau.
Nach dem Tode aber ließ mir diese Geschichte keine Ruhe. Da ich mich schon immer für Ahnenforschung interessiert habe, erforschte ich unsere Familiengeschichte im Stadtarchiv, soweit das möglich war. Du weißt ja, dass unsere Vorfahren schon immer in Dorsten wohnten. Da bin ich auf eine Urahnin gestoßen, die laut Kirchenbucheintrag im Kanal ertrunken war. Und es gab noch eine Anmerkung dazu: Dieser Tod wurde als gerechte Strafe angesehen, da sie ihren Mann betrogen und das Kind aus einer verwerflichen Beziehung im Leibe getragen habe.“ (Heike Wenig)
Literatur:
Edelgard Moers (Hrsg): Andere Dorstener Geschichten. Dorsten 2005. Seite
169 ff.
Liste der Preisträger:
Gruppe der 17-20jährigen
1.Preis Michel Lee Flamme des Lebens
2.Preis Pauline Bartling Erbarmungslos
3. Preis Anja Greuel Hinter dem Lächeln
4.Preis Nicole Herner Unvorstellbar
4.Preis Philipp Hallbauer Poetry Slum
4.Preis Sophia Benning Zwanzig Dinge…
Gruppe der 13-16 Jährigen
1.Preis Anna Plümpe Loslassen
1.Preis Jette Tewes Sinn
2.Preis Edda Emilia Wasserbauer Berechenbar unberechenbar
2. Preis Isabel Paasch Maybe tomorrow
3.Preis A. Michelle Guski Stillstand
3.Preis Franca Beckmann Zufriedenheit
Gruppe der 8-12 Jährigen
1.Preis Lena Marie Micheel Grüne Zauberwelt
1.Preis David Minor Mein geheimnisvoller Ball
2.Preis Linda Bernsmann Die Kinder
3.Preis Sophie Minor Meine Verabschiedung
3.Preis Maximilian Hoppe Der Sommer
Sonderpreis
25 Schüler und Schülerinnen der Klasse 6a der Realschule
St. Ursula Dorsten
Schüler der 5. Klasse der Europa Schule Martin Luther in Herten
Sondergruppe Politisches Gedicht
1.Preis Daniel Gruber Die Würde
2.Preis Leandra Kuchenbäcker Unserer schönen Demokratie
3.Preis Max Venghaus Grau
4.Preis Sabeth Maria Dugdale 10 Sekunden der Welt
Sonderpreis englisches Gedicht
1.Preis Junis Bauer In the forest