Heike Wenig

 

 

 

Die Kindsmörderin

 

Aus dem Kirchenarchiv der lutherischen Gemeinde Schermbeck:

 

"Den 13. October 1717 ist hir ein jung Fraumensch Anna Gertraut Pfortmann auß dem Kirspel Wulfen bürtig, so ihr neugeborenes Kindelein vermordet, mit dem Schwerdt daß Haubt abgeschlagen und in ein Sack bey die galgen begraben."

 

 

 

Die Kindsmörderin

 

 

 

Joseph, lieber Joseph, was hast du gedacht,

 

daß du die schöne Nanerl ins Unglück gebracht!

 

 

 

Joseph, lieber Joseph mit mir ist's bald aus,

 

und wird mich bald führen zu dem Schandthor hinaus.

 

 

 

Zu.dem Schandthor hinaus auf einen grünen Platz,

 

da wirst du bald sehen, was die Lieb hat gemacht.

 

 

 

Richter, lieber Richter, richt nur fein geschwind,

 

ich will ja gern sterben, daß ich komm zu meinem Kind.

 

 

 

Joseph, lieber Joseph, reich mir deine Hand,

 

ich will dir verzeihen, das ist Gott wohl bekannt.

 

 

 

Der Fähnrich kam geritten und schwenket seine Fahn,

 

halt still mit der schönen Nanerl, ich bringe Pardon!

 

 

 

Fähnrich, lieber Fähnrich, sie ist ja schon todt.

 

Gut Nacht, meine schöne Nanerl, deine Seel ist bei Gott.

 

 

 

Anonym

 

 

 

 

 

Ob dieser anonyme Dichter die Notiz im Schermbecker Kirchenarchiv kannte, weiß ich nicht, aber ich kann mir sehr gut vorstellen, welch schlimmes Schicksal sich dahinter verbarg:

 

 

 

Es kam immer wieder vor, dass Soldaten des Fürstbischofs von Köln in den Bürgerhäusern von Dorsten im Quartier lagen. So geschah es auch anno 1716. Auf dem Marktplatz wurde frühmorgens exerziert. Die restliche Zeit oblag dem Müßigtum. Die Soldaten in den schmucken Uniformen waren eine Zierde für das Stadtbild und gar viele junge Weibsbilder gerieten in großes Verzücken, wenn sie diese erblickten.

 

Anna, genannt Nannerl, war eine junge Magd aus dem Kirchspiel Wulfen. Wenn Wochenmarkt in Dorsten war, schickte sie der Bauer mit einer Kiepe voll Gemüse dorthin, damit sie seine Waren verkaufe. Einfach gekleidet, war sie dennoch ein lieblicher Anblick für die Männer in der Stadt und viele Ware verkaufte sie gewiss an Kunden, die nur wegen ihrer ausgeprägten Schönheit an ihrem Stand anhielten. Sie war schüchtern, schlug beim Reden ihre Augen nieder, doch wer länger mit ihr redete, konnte ihre helle Intelligenz und ihr aufrichtiges Wesen bewundern. Sie war schon als kleines Kind auf den

 

Bauernhof gekommen, eine Vollwaise, Tochter eines entfernten Vettern des Bauers, der sich über seinen Stand erhoben und den Lehrerberuf ergriffen hatte. Der Bauer war der Meinung, wie viele damals, dass man sich versündige, wenn man im Leben mehr erstrebe als das, was seine Ahnen hatten. Und hatte er nicht recht. Sein Vetter und dessen Frau hatten in sehr bescheidenen Verhältnissen gelebt und waren an einer grassierenden Seuche verarmt gestorben.

 

Der Bauer sah es als seine Christenpflicht an, die Tochter der beiden zu sich zu nehmen. Aber er behandelte sie sehr streng, immer versucht, sie für die Sünden ihrer Eltern zu bestrafen. So durfte sie nicht mit den Kindern des Bauern zusammen aufwachsen, sondern erhielt die Stellung einer armen Magd, die sich zu schicken hatte. Auch vom Pfarrer wurde ihr jeden Sonntag eingebleut, dass es ihre Pflicht sei, keusch und gottesfürchtig zu leben. Sie sei dem Bauern zu großem  Dank verpflichtet.

 

Nannerl lebte still und bescheiden in ihr Schicksal ergeben. Der wöchentliche Marktbesuch  war ein Lichtblick in ihrem Leben. Und sie genoss es, wenn sich Menschen bereit fanden, ein Gespräch mit ihr zu führen.

 

Als sich eines Tages ein junger Fähnrich ihren Waren näherte und Äpfel zu kaufen verlangte, erstarrte sie noch mehr in ihrer Schüchternheit, hatte sie doch nie zuvor einen solch hübschen Mann gesehen. Und wie gut ihm seine Uniform stand. Sie wusste kaum zu antworten, als der Soldat sie ins Gespräch zu ziehen versuchte und gab ihm schnell die geforderten Äpfel. Daheim auf dem Hof träumte sie von diesem jungen Mann und stellte sich vor, dass er der Retter war, der sie aus der Rolle der Magd herausholen würde. Diesen Traum hatte sie schon oft geträumt, doch jetzt hatte der Retter eine reale Gestalt angenommen.

 

Als sie das nächste Mal auf dem Markt die Waren zum Verkauf anbot, war sie nicht erstaunt, dass der Soldat wieder zu ihr kam. Sie hatte fest damit gerechnet. So war ihre Schüchternheit auf viel geringer und munter plauderte sie mit dem jungen Mann. Als er ihr große Komplimente machte ob ihrer Schönheit, wurde sie sehr verlegen, denn derer war sie sich gar nicht bewusst.

 

Auch bei den nächsten Markttagen kam der junge Fähnrich zu ihr und sie wurden immer vertrauter miteinander. Dann, eines Tages eröffnete er dem jungen Mädchen, dass er mit seiner Truppe weiterziehen müsse. Zum Abschied bat er darum, sie am Ende des Markttages ein Stück des Weges begleiten zu dürfen. Nannerl verwehrte ihm diesen Wunsch nicht. Sie war traurig, dass sie ihn nun nicht wieder sehen würde und wehrte sich nicht, als er sie in den Arm nahm und um einen Abschiedskuss bat.

 

Der Kuss war heftig und was dann geschah, verstand sie kaum, ließ es aber mit sich geschehen, das arme unschuldige Nannerl.

 

Die Wochen gingen dahin. Nannerl war voller Kummer, dass ihr Retter, der im Traum sie doch immer aus diesem kargen Leben entführt hatte, so einfach weggezogen war. Sie bemerkte kaum, was mit ihr geschah. Und als nach neun Monaten des Abends sie unter großen Schmerzen auf ihr Lager sank, war ihr immer noch nicht bewusst, dass sie mit einem Kind darnieder kommen würde. Da, ein besonders starker Schmerz, ein Riss in ihrem Bauch und plötzlich lag da ein kleines Wesen vor ihr. Zu Tode erschrocken presste sie ihre Hand auf den Mund des Kindes, als dieses laut zu schreien anfing. Sie hatte einem Kind das Leben gegeben. Sie wusste, wie schlimm diese Schande war. Was würde der Bauer sagen und der Pfarrer. Das war die größte Sünde, die sie auf ihr Haupt hatte laden können.

 

Regungslos verharrte sie in dieser Stellung, immer noch die Hand auf dem Mund des Kindes. So fand sie eine ältere Magd, die sofort zu schreien anfing und so den Bauern herbei rief.

 

Man nahm ihr das Kind ab, einen kleinen Jungen. Er war tot.

 

Nannerl wurde in Ketten gefesselt und dem herbeigerufenen Dorfschargen übergeben.

 

 

 

Was dann mit Nannerl geschah, das habt ihr ja im Schermbecker Kirchenarchiv nachlesen können. Wenn ihr Mitleid habt mit diesem jungen Weibsbild, das so unverschuldet zur Kindsmörderin wurde, dann lasst eine Messe lesen zu ihrem seelischen Wohl.