Der Wallmeister von Dorsten

 

 

 

Es war wieder einmal eine Nacht im November, als die Patientin anrief und um einen Hausbesuch bat. Ich machte mich auf den Weg von Wulfen nach Dorsten durch die Wenge, innerlich brummend, denn es war ein derart schlechtes Wetter, dass man eigentlich keinen Hund vor die Tür schickte. Aber es lag in der Natur der Erkrankung der Patientin, dass sie gerade in einer so feuchten und nebeligen Nacht ihren Asthmaanfall bekam. Die Straßen waren menschenleer und ich kam schnell zu meinem Bestimmungsort. Nach einer Spritze und einer kurzen Wartezeit ging es der Frau wieder besser und ich konnte mich auf den Heimweg begeben. Gut, dass ich kein ängstlicher Typ bin. Es kann schon gruselig sein, so allein auf der Straße, zwischen Häusern, die tote Fenster zeigten. Nirgendwo ein Licht, ein Hinweis, dass hier Menschen wohnten.

 

Ich erinnerte mich an frühere Fahrten zu dieser Patientin, sehr oft in einer Nacht wie dieser. Dabei war mir immer ein streunender Hund aufgefallen, der einsam durch die Straßen zog. Er hatte mir leid getan, er sah so verhungert aus und ungepflegt mit seinem langen zottigen Fell. Bestimmt hatte er kein Herrchen. Er wirkte ja auch sehr bedrohlich, fast würde ich sagen, dass sein grimmiger Blick mich etwas abstieß, obwohl ich sonst doch eine richtige Hundenärrin bin. Wie gut, dass ich ihn heute nicht erblickte. Wegen des Nebels konnte ich nur langsam fahren.

 

Während ich so am Steuer saß, fiel mir plötzlich eine Geschichte ein, die ich kürzlich im Heimatkalender gelesen hatte. Sie hieß: „Der Wallmeister von Dorsten. Als Dorsten Stadt geworden war, ging man daran, Festungswerke zu errichten zu Schutz und Wehr in Kriegszeiten. Man ließ darum zum guten Gelingen einen Wallmeister kommen, der andere Städte schon zu Festungen ausgebaut hatte und darüber weit und breit in Ruhm und Ehren stand. Er soll aber, so berichtet die Sage, ein finsterer Mann gewesen sein, der ein steinernes Herz hatte, der über Leichen ging ohne Erbarmen. Die Arbeiter galten ihm nicht als Christenmenschen, er hielt sie wie Tiere. Wie Tiere trieb er sie an bei der schweren Arbeit in den Gräben und am Wall, an der Mauer und in den Türmen, ohne Unterlass den ganzen Tag von morgens früh bis spät in die Nacht. Er verspottete und verhöhnte sie, er schimpfte sie "Hunde". Dafür hat ihn Gott bestraft: Als schwarzer, zottiger Hund muss er nun umgehen in einem Hohlweg mitten zwischen dunklen, krummen Kiefern hindurch, hin und her, solange, bis einer ihn in der stürmischen Thomasnacht antrifft und nach seiner Schuld fragt. Weil das aber in der Zeit der unruhvollen Nächte ist, wo die bösen Geister in Scharen umherziehen, wagt sich niemand hinaus.“

 

Ich erinnerte mich noch, dass ich, wie ich das las, dachte, als Ärztin muss ich auch bei solch stürmischen Nächten hinaus, wenn einer zu einem Hausbesuch ruft. Ich konzentrierte mich wieder auf die Straße. Wo war ich eigentlich? Während ich meinen Gedanken so nachhing, musste ich im Kreis gefahren sein. Ich war anscheinend immer noch irgendwo in Dorsten. Es hatte keinen Sinn, so weiterzufahren. Ich hielt an und stieg aus. Es musste doch irgendwo ein Straßenschild zu finden sein. Etwas unheimlich war mir in dem Nebel doch zumute, aber ich ließ mein Auto zurück und machte mich mit einer Taschenlampe auf den Weg. Da, plötzlich im dünnen Lichtkegel meiner Lampe tauchte ein schwarzer, zottiger Hund auf und kam, die Zähne fletschend, auf mich zu. Ich bekam einen Riesenschrecken und hätte beinah meine Taschenlampe fallen gelassen.

 

Dieser Hund sah genauso aus wie der in der Sage. "Nun reiß dich aber zusammen." Ich schüttelte mich, abergläubig war ich doch noch nie. Der Hund stand nun vor mir, bedrohlich knurrend. "Ach, was schadet es denn," dachte ich, gut zureden hat schon jeden Hund beruhigt. Ich sprach ihn an: "Nun komm schon und gib Ruhe. Ich kenn dich doch. Du bist der "Wallmeister von Dorsten". Du kannst mir keine Angst einflößen." Der Hund schien zuzuhören, das Knurren verschwand und er drückte sich flach auf die Erde. "Siehst du, ich habe keine Angst vor dir. Du tust mir nur leid. Wie viele Nächte die Jahrhunderte hindurch bist du so allein durch die Gegend gezogen, um deine Schuld zu büßen!"

 

Der Hund stand auf, kam vorsichtig auf mich zu und benahm sich so, wie jeder Hund, der gern gestreichelt werden wollte. Er stupste mich mit der Pfote an, so als wollte er sagen. "Los, nun streichle mich schon." Ich ließ meine Hand vorsichtig durch das zottelige Fell gleiten und spürte nur Haut und Knochen. Der Hund genoss es offensichtlich sehr, drängte sich noch dichter an mich heran und wollte noch mehr Streicheleinheiten. Dies Verhalten bin ich gewohnt, kommt doch jeder fremde Hund so zu mir ohne Scheu und begehrt das gleiche. Nach einer Weile sagte ich: "So, das ist nun genug. Es wird immer später und ich muss endlich nach Hause."

 

Als ich mich umblickte, bemerkte ich, dass ich direkt neben einem Straßenschild gestanden hatte: SÜDWALL. Ich drehte mich um und sah auch sofort mein Auto.

 

Der Hund begleitete mich noch bis dahin. Als ich losfuhr, blickte er traurig, machte einmal "Wuff" und verschwand im Nebel. Meine Heimfahrt verlief nun ohne weitere Komplikationen, aber ich war froh, als ich endlich in meinem warmen Bett lag. Am nächsten Morgen erschien mir das alles so unwahrscheinlich, dass ich zuerst glaubte, ich hätte alles geträumt. Aber der ausgeführte Hausbesuch war Realität. Es ist wohl unnötig, zu erwähnen, dass ich später bei weiteren nächtlichen Hausbesuchen bei der gleichen Patientin den Hund nie wieder gesehen habe. (Heike Wenig)

 

Literatur:

 

Edelgard Moers (Hrsg): Dorstener Geschichten. Dorsten 2000. Seite 15 ff