Der letzte Zwerg in der Heide

 

 

 

Hinter der Schule Beck, am Fuße der Hohen Mark, lag unter Wacholderbüschen, Ginstersträuchern, Birkenhorsten und Zwergkiefern die schaurige Heide. Schon bei Tage überlief die Kinder ein Gruseln inmitten dieser Einsamkeit. Am Abend traute sich auch der mutigste Junge nicht, dort hin zu gehen.

 

Einst lebte hier eine vornehme Zwergenfamilie. Sie besaß ein glänzendes Schloss tief im Schoße der Heide. Dort lagen aufgespeichert ganze Berge von Gold, Silber und Edelsteinen. Die Zwerge waren die Herren des Waldes und der Heide. Sie lebten in Frieden und Freude, ohne von jemandem beneidet oder gestört zu werden. Doch dann kamen die Menschen. Sie jagten den Zwergen die Hasen und Rehe ab. Das verdross die kleinen Männlein. Die Menschen schlugen die besten Bäume ab, unter deren schattigen Kronen die Zwerge plauderten und schnarchten.

 

Das verdross die Männlein noch mehr. Und sie beschlossen zu dem Anführer der Menschen hin zu gehen und ihm sagen: „Lieber Herzog, schießt uns nicht das Wild weg, das unsere Speise ist. Sägt nicht die besten Bäume ab, unter denen wir schlafen und träumen. Wir geben euch als Lohn so viel Gold und Silber, wie ihr tragen könnt.“ Als der Herzog von Gold und Silber hörte, willigte er ein. Er versammelte seine Krieger, und unter Führung der Zwerge gingen sie zum unterirdischen Schloss in der Heide. Dort angekommen, sprangen alle eilends von den Rossen, denn sie glaubten, in das funkelnde Schloss hinunter steigen zu dürfen. Doch die Zwerge sagten: „Noch nie ist ein Mensch hier unten gewesen, darum wartet geduldig, bis wir euch die Schätze bringen.“ Dann verschwanden sie in der Tiefe.

 

Es war für die Menschen eine Wonne, diesen braven Männlein zuzusehen, wie sie, einer nach dem anderen, mit schweren Gold- und Silberklumpen beladen, schnaufend und stolpernd aus der Erde stiegen. Der Herzog und sein Leute nahmen das fürstliche Geschenk gierig entgegen und ritten stolz nach Hause. Doch den Herzog hatte der schimmernde Reichtum der Zwerge geblendet. Er dachte deshalb nach, wie er Herr des ganzen Schlosses werden könnte. Das beste Mittel schien ihm, die Zwerge zu überfallen und auszurauben. Schwer bewaffnet zog er darum mit seinen Kriegern zum Zwergenschloss. Vor dem Eingang saß der König der Zwerge. An diesen wandte sich der Herzog mit barschen Worten: „Gebt uns euren ganzen Schatz, sonst werden wir ihn euch rauben. Der Zwergenkönig staunte über diese kecken Worte und antwortete: „Ist das der Dank für unser Geschenk, ihr Räuber und Störenfriede? Nie und nimmer werdet ihr unseren Schatz bekommen. In demselben Augenblick war er verschwunden, und ein Tor verschloss den Eingang.

 

Doch die Menschen waren feige und grausam. Sie schlugen ein Lager auf und bewachten das Tor des Schlosses viele Wochen lang. Als die Zwerge ihre Vorräte verzehrt hatten, kamen sie an die Schlosstür und riefen: „Oh, lasst uns heraus, wir verhungern.“ Doch die Menschen glaubten, diese Notschreie seien eine List der Zwerge. Erst sollte das ganze Zwergenvolk tot sein, dann konnten sie ohne Angst vor Überfall und Rache in das Schloss steigen und glückliche Besitzer des Schatzes werden.

 

Das Schreien und Rufen der Zwerge verhallte nach und nach, bis es schließlich  totenstill wurde. Das grausame Werk der Menschen war vollendet. Die Zwerge im Inneren der Erde mussten aus Habgier der Menschen sterben. Nun wollten der Herzog und seine Männer in die Gemächer der Zwerge eindringen. Aber, o weh, niemand von ihnen fand den Eingang. Ein einsames kleines Männlein, das nicht in dem Schloss war, musste die Untat der Menschen mit ansehen und hatte den Eingang verzaubert. Es konnte zwar seine Brüder nicht retten, doch sein Zauberspruch ließ den gewaltigen Schatz versenken. Wutschnaubend zog der Herzog mit seinem Kriegsvolk ab. Das kleine Männlein aber, das nun der letzte Zwerg in der Heide war, begrub seine Brüder und schwor den Menschen blutige Rache. Daran erinnert das dumpfe und unheimliche Klopfen in der Heide. (Hugo

 

Hölker)

 

Literatur:

 

Edelgard Moers (Hrsg): Dorstener Geschichten. Dorsten 2000. Seite 40 ff