Fantasie überbrückt Zeit und Raum
WW5P sitzt vor seinem PC und surft durchs Internet. Auf der Datenautobahn bewegt er sich gerade in Richtung Blauer Planet. Schule findet ausschließlich am Computer statt. Im Datennetz geht er sein Lernprogramm durch, dabei steuert er den Cursor mit dem Trackball. Städte in Deutschland hat er sich für heute vorgenommen. Nach einiger Zeit wird der Name "Dorsten" umrahmt von visualisierten Erläuterungen auf dem Bildschirm sichtbar.
WW5P hat plötzlich ein unbändiges Verlangen, diesen Ort zu erleben. Wie hypnotisiert begibt er sich in die Zeitmaschine und wünscht sich für eine Lernsequenz in diesen Ort. Urplötzlich steht er auf dem Marktplatz. Verwirrt schaut er sich um. Ein kleiner Hund schnuppert interessiert an seinen Waden und leckt die Reste des Sternenstaubs ab. An der Stadtwaage hängt ein vergilbter Zettel mit dem Namen "Josef Schulte-Loh". „So interessante Namen haben wir bei uns nicht." stellt er staunend fest. „Diesen Namen nehme ich für die Zeit hier an,“ beschließt er und murmelt ihn mehrmals leise vor sich hin, um ihn nicht zu vergessen.
Die kleine Stadt liegt noch im Schlaf. Doch auf einmal hört er kreischende Stimmen. „Das klingt nicht gut." empfindet WW5P ganz richtig. Aus allen Häusern rennen Frauen und Kinder wild durcheinander. Sie haben Bienenkörbe und Gefäße mit dampfendem Wasser in den Händen. Schnell zückt er seinen Digital-Foto-Camcorder, um ein Foto zu machen. „Steh, nicht herum. Fass mit an!", ruft ihm eine Frau zu. Ohne zu zögern folgt er den Anweisungen.
Während er den Frauen tatkräftig zur Seite steht und immer wieder irgendetwas, was sie ihm in die Hand drücken, über die Mauer wirft, begreift er nach und nach die Ursache für die Unruhe. Ein protestantischer Graf namens Johann Philipp von Oberstein versucht mit einem großen Heer, die Stadt zu einzunehmen. Er will den katholischen Dorstenern seinen Glauben mit Gewalt aufzwingen. Die Frauen wollen nun die Feinde in die Flucht schlagen, weil ihre Männer ausgeritten sind. Sie werden dabei auch von den Kindern unterstützt. Aus den Brauhäusern schleppen sie heißes Wasser, heißes Öl, Pech, Steine und Bienenstöcke heran. Mit diesen seltsamen Verteidigungswaffen verjagen sie schließlich die Eindringlinge. WW5P ist ganz sicher, dass die Angreifer ohne seinen Einsatz nicht so schnell geflohen wären. Da fällt ihm ein, dass er gar nicht dazu kam, die Verteidigungsaktion zu fotografieren. „Schade“, denkt er, „die Fotos hätte ich dann in meinem PC unter dem Stichwort „Dorsten“ archivieren können.“
Nach dieser Aufregung überfällt ihn plötzlich ein großes Hungergefühl in der Magengegend. „Wo gibt's denn hier 'nen Big-Mac und 'ne Cola?", fragt er eine Frau. „Was ist denn das?", erwidert diese und mustert ihn von oben bis unten. „Ihrer Kleidung nach zu urteilen, sind Sie wohl nicht von hier?" WW5P blickt auf sein T-Shirt aus Mikrofaser im Neonlook und auf seine Hightech-Turnschuhe mit Airpumpsystem und batteriebetriebenen Blinklichtern. Erst jetzt fällt ihm auf, dass er den hier lebenden Menschen sehr exotisch vorkommen muss. "Ja richtig, ich bin heute erst angekommen. Mein Name ist Josef Schulte-Loh." stellt sich WW5P vor. "Dann kommen Sie mal mit in unser Haus. Wir haben jetzt alle Hunger und wollen gemeinsam etwas essen." lädt ihn die Frau ein. „Auch ich möchte mich vorstellen. Mein Name ist Angela Josten.“
Während des Essens erzählt ihm die Frau, wie dieser Ort entstand. "Direkt in der Nähe gibt es einen Fluss, der heißt Lippe. Die Lippe war früher an einer Stelle so schmal, dass man hindurch laufen konnte. Daher kamen viele Menschen durch diese Gegend und einige siedelten sich hier an. Durstina hieß eine Gruppensiedlung nördlich der Lippe und Durstinon nannte man die Einzelhofsiedlung am südlichen Flussufer. Schließlich bildete sich das Kirchdorf Dorsten und der Kölner Erzbischof Konrad von Hochstaden verlieh ihm die Stadtrechte." "Welche Rechte waren das denn?" fragt WW5P alias Josef Schulte-Loh interessiert, „Mit Menschenrechten habe ich mich lange beschäftigt.“ "Jeder Mensch, der ein Jahr und einen Tag in der Stadt lebte, wurde ein freier Bürger. Die Bürger durften ihre Stadt mit Wall und Wassergraben vor Feinden schützen." Antwortet ihm Angela Josten. "Ohne unsere Stadtmauer hätten wir heute den Feinden nicht standhalten können." „Mmmh, ja, das stimmt allerdings,“ sagt WW5P nachdenklich und fügt leise hinzu, „aber durch systemische Beratungsstrategien und Supervision wäre erst gar kein Feindbild aufgebaut worden.“
Durch das geöffnete Fenster klingt der Gesang einer Ballade an sein Ohr.
„Johannes Philipp von Oberstein
schloss Dorsten mit Türmen und Toren ein;
und die Wehre hielten Tag und Nacht
an Wällen und Gräben verzweifelnde Wacht.
Noch standen die Türme, noch trotzten die Mauern,
doch durch die Stadt flog schwarzes Trauern,
und wie ein Gespenst kroch durch die Gassen
Obersteins Schwur - und die Menschen erblassen.
So wahr ich bin Philipp von Oberstein,
morgen sind Türme und Tore mein.“
Einige Tage später begibt er sich wieder auf den Marktplatz. Der kleine Hund ist auch wieder da und beschnuppert ihn freundlich wedelnd. WW5 P beugt sich zu ihm hinunter und streichelt ihn. Er macht von ihm ein Foto und hält Ausschau nach weiteren Motiven. Nach und nach versammeln sich viele Menschen. WW5P hört interessiert zu, wie sich zwei Männer unterhalten. Er erfährt, dass sie Handwerker sind, die ihre Ware auf dem Dorstener Marktplatz verkaufen. „Dorsten ist eine wohlhabende Stadt." denkt er und sein Eindruck wird durch das große Warenangebot bestätigt. Die Kaufleute wiegen an der Stadtwaage ihre Waren aus. Die zwei Männer erzählen, dass sich Händler und Handwerker in Gilden zusammen geschlossen haben, um besser ihre Interessen vertreten zu können. Es gibt die Weber, die Schneider, die Schuhmacher, die Schmiede, die Pelzer, die Bäcker und die Kaufleute.
„Die Menschen haben alle Arbeit und können ohne Sorgen leben." sagt er einem alten Mann, der sich zu ihm stellt. „Ach, so zufrieden leben wir gar nicht", meint der alte Mann. „Gerade habe ich an der Lippebrücke meinen Brückenzoll entrichtet. Heute gab es mal ausnahmsweise keinen Streit." „Warum hatten Sie Probleme und was ist Brückenzoll?" will nun WW5P wissen. "Sie sind wohl nicht von hier?" fragt der alte Mann. „Ja, das stimmt." antwortete WW5P ehrlich. „Übrigens, darf ich mich vorstellen? Ich heiße Josef Schulte-Loh." Der alte Mann nickt ihm freundlich zu und erzählt: „Jeder Mensch, der die Brücke überquert, muss Zoll an die Stadt Dorsten bezahlen. Vor nicht langer Zeit gab es auf der Lippebrücke einen großen Kampf und viele Menschen kamen dabei ums Leben. Da haben sich einfach Matthias von Westerholt und seine Soldaten ans andere Ende der Brücke gestellt und auch noch einmal Zoll eingenommen."
WW5P wird sehr nachdenklich. Vor einiger Zeit hat er ja selbst die heftigen Kämpfe an der Stadtmauer miterlebt und nun erfährt er von grausamen Kämpfen an der Lippebrücke. „Warum ist es für die Menschen nur so schwer, in Frieden miteinander zu leben?" fragt er sich. „Bei uns steht auf dem Lehrplan, dass wir Strategien zur kreativen Konfliktlösung entwickeln sollen. Was und wo lernen die Menschen hier eigentlich? Computer habe ich nirgendwo gesehen und Lehrer habe ich auch nicht kennen gelernt." „Es gibt eine Schule in der Stadt, die von Jungen freiwillig besucht werden kann." erklärt ihm der Kirchendiener von St. Agatha etwas später. „Das reicht doch gar nicht." meint WW5P. „Dieser Ort braucht Bildungsmöglichkeiten für alle. Wie sind sonst Innovationen möglich? Wie sollen aus den Menschen mündige Bürger werden? Auf dem Stundenplan muss Friedenserziehung mit praktischen Übungen und Anleitungen stehen. Es darf nicht sein, dass Menschen nur nach Macht und Geld streben und um ihre Ziele zu erreichen, sich gegenseitig töten." „Tja!" meint der Kirchendiener. „Die Menschen müssen für demokratische Prozesse sensibilisiert werden. Doch das kann nur geschehen, wenn sie aus eigenen Erfahrungen selbstständig, selbstbestimmt und selbstverantwortlich lernen.“ Nach einer kleinen Pause fügt er hinzu: „In der Bibel habe ich gelesen, dass sich die Menschen schon vor mehreren tausend Jahren aus Neid, Habgier und Macht bekämpft haben."
WW5P kanalisiert seinen ganzen Energievorrat, um seine Gedanken auf die Menschen zu übertragen. Bei den Franziskanermönchen und bei den Nonnen des Ursulinenordens findet er große Zustimmung und gemeinsam entstehen Bildungspläne.
Es dauert aber noch viele Jahre, bis WW5P endlich mit großer Freude erlebt, dass die Mönche das Petrinum für Jungen gründen und weitere Jahre später Ursulinen eine Mädchenschule einrichten.....
"Time over!", erscheint auf dem Bildschirm. WW5P findet sich an seinem Computer wieder und bemerkt etwas irritiert, dass seine Zeitreise schon zu Ende ist. "Individuum lebte 100 Jahre in Dorsten. Energievorrat ist erschöpft." gibt ihm der Bildschirm Auskunft. "Schade," denkt WW5P, "ich wäre gern noch einige Zeit dort geblieben. Dann hätte ich in der Schule meine neue Lernsoftware vorgestellt."
Er zieht die Magnetspeicherkarte aus seinem Digital-Foto-Camcorder und schiebt sie in das Lesegerät seines PCs, um sich die Fotos auf dem LCDMonitor anzuschauen.
Neugierig holt WW5P aus dem Internet weitere Informationen über Dorsten auf den Bildschirm. Er klickt die Website der Stadt Dorsten an. Da erscheint ein Notgeldschein von 1922 auf dem Monitor, der an die Heldentaten der Frauen erinnert. Auf dem Schein erzählen ein Bild und ein Vers, wie Graf Jan Philipp hastig das Weite suchte:
Jan Philipp woll met pulver un brand
Stadt Dossen scheiten in asge un sand.
Do dreben met imen, füer un peck
Die wiewer van mur un purten em weg;
hei sleig sick halsoewerkopp düer de dämpe,
Flog achteräes in de Dossgen kämpe.
„An dieses Ereignis kann ich mich noch gut erinnern.“ denkt WW5P. Er klickt den nächsten Suchbegriff an und liest: "Im Jahr 2001 hatte die Stadt ihren 750-jährigen Geburtstag. Die Menschen der Stadt feierten das ganze Jahr über gemeinsam ihre Stadt." "Die Dorstener haben Feste miteinander begangen. Das finde ich grandios." freut sich WW5P. "Ein Jahr ohne Streit." Nun erscheint der Marktplatz und als Großaufnahme der Brunnen mit den historischen Figuren.
WW5P sieht genau hin und erkennt die Dorstener Frauen, mit denen er tapfer die Stadt verteidigt hat. Aber wo ist denn die Figur, die ihn zeigt? (Edelgard Moers)
Literatur:
Paul Fiege: Beiträge zur Entstehung der Stadt Dorsten. In: Heimatkalender der
Herrlichkeit Lembeck und Stadt Dorsten. Dorsten. Jahrgang 1984. Seite 36-45
Josef Kellner: Sagen aus Dorsten. Unveröffentliches Manuskript
Liber Statuorum
Liste der Preisträger:
Gruppe der 17-20jährigen
1.Preis Michel Lee Flamme des Lebens
2.Preis Pauline Bartling Erbarmungslos
3. Preis Anja Greuel Hinter dem Lächeln
4.Preis Nicole Herner Unvorstellbar
4.Preis Philipp Hallbauer Poetry Slum
4.Preis Sophia Benning Zwanzig Dinge…
Gruppe der 13-16 Jährigen
1.Preis Anna Plümpe Loslassen
1.Preis Jette Tewes Sinn
2.Preis Edda Emilia Wasserbauer Berechenbar unberechenbar
2. Preis Isabel Paasch Maybe tomorrow
3.Preis A. Michelle Guski Stillstand
3.Preis Franca Beckmann Zufriedenheit
Gruppe der 8-12 Jährigen
1.Preis Lena Marie Micheel Grüne Zauberwelt
1.Preis David Minor Mein geheimnisvoller Ball
2.Preis Linda Bernsmann Die Kinder
3.Preis Sophie Minor Meine Verabschiedung
3.Preis Maximilian Hoppe Der Sommer
Sonderpreis
25 Schüler und Schülerinnen der Klasse 6a der Realschule
St. Ursula Dorsten
Schüler der 5. Klasse der Europa Schule Martin Luther in Herten
Sondergruppe Politisches Gedicht
1.Preis Daniel Gruber Die Würde
2.Preis Leandra Kuchenbäcker Unserer schönen Demokratie
3.Preis Max Venghaus Grau
4.Preis Sabeth Maria Dugdale 10 Sekunden der Welt
Sonderpreis englisches Gedicht
1.Preis Junis Bauer In the forest