Die Seherin vom Hardtberg
Nebel hatte sich über die Felder gelegt. Der Hardtberg war darin kaum zu erkennen,
auch die Umrisse der Bäume verschwammen im Morgendunst. Das kleine
Mädchen hielt die Hand seiner Mutter fest umschlossen. Es fröstelte leicht in
der Kühle des Morgens. Ein Ast knackte im Gebüsch. Huschte dort nicht ein Hase
her? Oder war’s ein wilder Fuchs? Oder gar ein Räuber?
Die Mutter spürte die Unruhe ihrer Tochter. Beruhigend beugte sie sich nieder.
„Du brauchst dich nicht zu fürchten, Kleines. Hier gibt es schon lange keine Räuber
mehr.“
„Hat es denn früher hier welche gegeben?“
„Früher schon“, antwortete die Mutter, „früher, ja da gab es hier noch Räuber,
die das Land unsicher machten. Aber das ist lange her. Früher, da waren die Zeiten
einfach schlechter. Da versuchte jeder sich durchzuschlagen, so gut oder so
schlecht er eben konnte. Wer in einem Jahr eine gute Ernte eingefahren hatte,
konnte nicht sicher sein, ob er auch im nächsten Jahr wieder genügend Korn auf
den Halmen haben würde, ob dann seine Familie Hunger leiden musste oder ob
kriegerische Stämme Haus und Land verwüsten würden.“
Milena sah ihre Mutter ernst an. „Das muss ja furchtbar für die Menschen gewesen
sein, wenn sie nicht wussten, wovon sie am nächsten Tag leben sollten.“
„Ja“, meinte die Mutter, „das war es auch. Und diese Ungewissheit brachte sie
dazu, in Notsituationen die Seherin aufzusuchen.“
„Eine Seherin? Was ist denn das? Kann die mehr sehen als andere Leute?“
„Na ja, so könnte man das nennen. Eine Seherin hat sozusagen ein drittes, ein
inneres Auge. Damit kann sie in die Zukunft sehen.“
„Hat es hier auch so eine Seherin gegeben?“
„Ja, auch in dieser Gegend soll eine Seherin gelebt haben, hier irgendwo auf einem
kleinen Hügel an der Lippe, wahrscheinlich sogar da vorne auf dem
Hardtberg. Aber so genau weiß man das nicht mehr. Im Laufe der Zeit ist sie
einfach in Vergessenheit geraten. Seit die Menschen Zeitungen und Radios und
gar Fernsehen haben, brauchen sie keine Seherin mehr, die ihnen die Zukunft
voraussagt. Die Medien berichten ihnen ja alles, was sie wissen wollen und auch
das, was sie nicht wissen wollen. Sie sagen ihnen, wie am nächsten Tag das Wetter
wird, was sie für ihre Gesundheit tun können, wann Aldi wieder Butter und
Wurst im Sonderangebot hat und auch, wo sie ihren schönsten Urlaub verbringen
können. Wozu also brauchen sie da noch eine Seherin?“
Die Mutter lächelte leise. Die Vergleiche schienen ihr gelungen, und sie hoffte,
ihre Tochter damit von den düsteren Gedanken abgebracht zu haben. Milena
aber spukte die Seherin weiter im Kopf herum.
„Wie hat sie geheißen?“
„Wer?“
„Die Seherin natürlich!“
„Ach die! Ich glaube, die hieß Veleda.“
„Veleda? Das klingt ja fast so wie mein Name, wie Milena. Was war das denn für
eine Frau, diese Veleda? War sie noch jung, als sie hier gewohnt hat? Lebte sie
allein? Hatte sie Kinder?“
„Woher soll ich das wissen?“ gab die Mutter ein wenig ungeduldig zur Antwort.
„Zu ihrer Zeit hab ich schließlich noch nicht gelebt.“
Inzwischen waren Mutter und Tochter bei dem Haus von Milenas Großmutter
angekommen. Die alte Dame hatte sie schon erwartet und öffnete ihnen gleich
die Tür. Ihr Wohnzimmer strahlte wohlige Wärme aus. Auch der Kaffeetisch
war bereits gedeckt, und Milena aß mit großem Appetit die frischen Brötchen,
die sie fingerdick mit Omas selbst gemachter Kirschmarmelade bestrichen hatte.
Nachdem das Frühstück beendet war, wurde das Mensch-ärger-dich-nicht-Spiel
aus dem Schrank geholt. Großmama und Mama zogen gut gelaunt ihre Figuren
über das Brett. Milena aber hatte die reinste Spielwut gepackt. Sie wollte unbedingt
gegen die anderen gewinnen. Jedoch allein der Würfel bestimmte, wer gewann
und wer verlor. Selbst wenn Milena glaubte, ihre Figuren bestens platziert
zu haben und ihr der Sieg sicher sei, stand sie am Ende oft als Verliererin da.
Die Seherin vom Hardtberg, dachte Milena, die hätte bestimmt im Voraus gewusst,
ob ich ein Spiel gewinne oder nicht. Komisch, dachte sie dann, dass mir
wieder diese Veleda durch den Kopf geht. Liegt es vielleicht daran, dass ihr Name
so ähnlich klingt wie mein Name?
„Oma“, fragte sie, „hast du gewusst, dass früher einmal hier in der Gegend eine
Seherin gelebt hat?“
„‘Ne“, sagte die Großmutter, „davon habe ich noch nie was gehört. Eine Seherin,
sagst du? Ist das so was wie eine Wahrsagerin?“
„Mehr oder weniger jedenfalls“, erklärte Milenas Mutter, „obwohl ... also ich
glaube, eine Seherin ist schon etwas mehr als eine Wahrsagerin. Sie legt den
Leuten nicht einfach die Karten oder liest ihnen für Geld die Zukunft aus der
Hand. Nein, ich denke eher, eine echte Seherin sieht - ohne dass sie das will –
durch Visionen oder durch andere unerklärliche Einsichten - zukünftige Dinge
voraus. Auch bei den alten Römern gab es Seherinnen – ja, es waren meistens
Frauen – und die Leute pilgerten von weit her zu ihnen hin und brachten ihnen
Geschenke. Als Gegengabe wollten sie dafür wissen, ob ihr Volk einen Krieg gewinnen
würde, ob eine Sintflut bevorstände, ob ihre Herden von einer Seuche
befallen würden, oder solche Sachen eben. Ja, und in den alten Zeiten, da wurden
die Seherinnen hoch verehrt, gleichzeitig aber auch gefürchtet. Doch unsere
Veleda gehörte sicher nicht zu den besonders berühmten Frauen, sonst hätte
man sie bis heute wohl nicht fast völlig vergessen.“
Milena, die sonst stets so lebhaft daher plapperte, war merkwürdig still geworden.
Die Seherin vom Hardtberg, dachte sie, wie mochte sie ausgesehen haben?
Wie mochte sie gelebt haben? Doch dann verscheuchte sie ihre Gedanken an die
geheimnisvolle Unbekannte und begleitete ihre Oma in den Garten, um ihr beim
Unkraut rupfen zu helfen. Die Oma, der die Gartenarbeit inzwischen schwer fiel,
freute sich über die Unterstützung der Enkelin. Als Dank gab sie Milena beim
Abschied ein dickes Bündel Möhren mit auf den Heimweg.
An diesem Abend lag Milena noch lange wach in ihrem Bett und dachte über die
Frau nach, die in die Zukunft blicken konnte. Sicher war sie eine schöne Frau
gewesen sein, mit blondem Haar und blauen Augen. Oder waren ihre Augen
schwarz wie die Nacht und ihr Haar dunkel wie der Sternenhimmel?
Je mehr Milena an die Unbekannte dachte, desto mehr schärften sich ihre Konturen,
desto vertrauter wurde sie ihr. Sie sah sie vor sich, wie sie sich - das
Haar zu losen Zöpfen geflochten – ihren Weg durch das Dickicht bahnte, das am
Hange des Hügels wuchs. Wie sie gleich einem zarten Schatten zwischen den
Bäumen auftauchte. Wie sie sich frei und ungezwungen bewegte, jedoch scheu
wie ein Reh verschwand, wenn ihr Fremde begegneten.
Nein, in Milenas Augen hatte Veledas Erscheinung nichts von den Merkmalen, die
in Volkssagen alten Hexen nachgesagt wurden, wie ausgehöhlte Wangen, ein langes
spitzes Kinn, ein eingefallener zahnloser Mund, kalte Vogelaugen.
Den Dörflern am Fuße des Berges jedoch war das stille Mädchen mit den eigenartig
schönen Gesichtszügen unheimlich. Für sie war sie eine Fremde, eine Aussätzige,
eine Zigeunerin. Sie mieden ihre Nähe. Nur wenn sie Sorgen hatten,
wenn Ängste sie quälten, Unsicherheiten oder Krankheiten, dann suchten sie
schon mal ihre einsam im Wald gelegene Hütte auf, baten um Rat und ließen sich
Kräuter geben, die ihre Leiden heilen, ihre Schmerzen lindern sollten. Veleda war
jederzeit bereit, Menschen in Not zu helfen. Doch Fragen nach der Zukunft beantwortete
sie nicht. Sie allein nur bestimmte, wann sie ihr Wissen um geheime
Dinge weitergab und wann nicht.
Milena aber fühlte sich seltsam hingezogen zu diesem Wesen, dass vor einigen
hundert Jahren hier gelebt hat, deren Spur sich im Dunkeln der Geschichte verlor.
Wenn sie sich im Geist mit der jungen Seherin unterhielt, bekam sie auf fast
alle Fragen eine Antwort. Diese Veleda - zu Unrecht als Hexe verschrien - war
im Grunde ein einfaches Mädchen, das aber eine Weisheit verkörperte, die sich
nur dem erschloss, der sie ohne Vorurteile annahm. Und Milena war dazu bereit.
So wurde Veleda allmählich ihre unsichtbare Begleiterin, ihre Vertraute, mit der
sie ihre intimsten Gedanken austauschen konnte. Aber auch sie konnte sich in
das Schicksal ihrer geheimnisvollen Freundin hinein versetzen, konnte nachempfinden,
wie sehr diese unter der Ablehnung ihrer Zeitgenossen litt, wie sehr die
Visionen von Not und Elend quälten, die sie oftmals heimsuchten. Und so wurde
sie auch Zeugin einer sich anbahnenden Katastrophe, die mit voller Grausamkeit
auf ihre neue Vertraute zurückfallen sollte.
Eines Nachts nämlich hatte Veleda die Vision, dass eine große Epidemie die Bevölkerung
ihres Landstriches heimsuchen würde. War es die Pest? Waren es die
Blattern? War’s eine andere Krankheit? So genau konnte auch Veleda das nicht
Liste der Preisträger:
Gruppe der 17-20jährigen
1.Preis Michel Lee Flamme des Lebens
2.Preis Pauline Bartling Erbarmungslos
3. Preis Anja Greuel Hinter dem Lächeln
4.Preis Nicole Herner Unvorstellbar
4.Preis Philipp Hallbauer Poetry Slum
4.Preis Sophia Benning Zwanzig Dinge…
Gruppe der 13-16 Jährigen
1.Preis Anna Plümpe Loslassen
1.Preis Jette Tewes Sinn
2.Preis Edda Emilia Wasserbauer Berechenbar unberechenbar
2. Preis Isabel Paasch Maybe tomorrow
3.Preis A. Michelle Guski Stillstand
3.Preis Franca Beckmann Zufriedenheit
Gruppe der 8-12 Jährigen
1.Preis Lena Marie Micheel Grüne Zauberwelt
1.Preis David Minor Mein geheimnisvoller Ball
2.Preis Linda Bernsmann Die Kinder
3.Preis Sophie Minor Meine Verabschiedung
3.Preis Maximilian Hoppe Der Sommer
Sonderpreis
25 Schüler und Schülerinnen der Klasse 6a der Realschule
St. Ursula Dorsten
Schüler der 5. Klasse der Europa Schule Martin Luther in Herten
Sondergruppe Politisches Gedicht
1.Preis Daniel Gruber Die Würde
2.Preis Leandra Kuchenbäcker Unserer schönen Demokratie
3.Preis Max Venghaus Grau
4.Preis Sabeth Maria Dugdale 10 Sekunden der Welt
Sonderpreis englisches Gedicht
1.Preis Junis Bauer In the forest