Jutta von Hagenbecks Vermächtnis

 

 

 

Vor langer Zeit lebte auf Burg Hagenbeck ein Ritter, der sich hierher mit seinen beiden Töchtern zurück gezogen hatte. Die ältere Tochter, Woltera, war schön und sanft. Die jüngere, Jutta, hatte markante Gesichtszüge, war energisch und auch wohl des Öfteren sehr wild. Während nun die Erstgeborene brav in ihrem Turmzimmer saß und fleißig Teppiche für ihre Aussteuer webte, ritt ihre Schwester auf ihrem Lieblingspferd durch das weitläufige Anwesen des Vaters. Sie war des langweiligen Burglebens überdrüssig. Bei dem Gedanken, dass sie in dieser abgelegenen Gegend ihr weiteres Leben mit sinnlosem Tun verbringen musste, wurde sie so wütend, dass sie anhielt und ihre Reitgerte heftig über die dichtbelaubten Äste eines Eichenbaumes zischen ließ. Im gleichen Moment hörte sie einen Schrei. Dann fiel ein großes Bündel vor die Hufen ihres Pferdes. Obwohl Jutta beim Reiten keine Brille trug, erkannte sie doch gleich, dass es ein Mann war. Beherzt sprang sie von ihrem Rappen und setzte ihren Fuß (sie trug Stiefel mit eisenbeschlagenen Absätzen und Spitzen) drohend auf seine Brust. Zerschunden, wie dieser nun war, flehte er wimmernd um Gnade. Aber erst, als Jutta von ihm erfuhr, dass er Kundschafter einer Räuberbande war, ließ sie ihn höchst erfreut unter der Bedingung aufstehen, dass er sie mit zu seinen Kameraden nähme.

 

Ohne sich von Vater und Schwester zu verabschieden, ritt sie dem Mann nach, bis sie endlich beim Unterschlupf der Räuber angelangt waren. Jutta fühlte sich hier sogleich wohl. Ehe es den Männern so richtig bewusst wurde, hatte sie deren Führung übernommen. Sie folgten ihr willig, weil die Ritterstochter sich kompetent dieser neuen Aufgabe stellte.

 

Da es nun üblich war, dass die Armen den Reichen von ihrer kleinen Habe abgeben mussten, lebten viele im Elend. Jutta aber, das muss zu ihrer Rechtfertigung erwähnt werden, hatte diese Ungerechtigkeit stets angeprangert. Aber was galt schon das Wort einer Frau. Nun sah sie eine Möglichkeit, den Unterdrückten zu helfen. Sie überfiel mit den Männern Reisende, von denen sie wusste, dass sie ohne Mitgefühl für die Not ihrer Landleute im Reichtum schwelgten. Die Beute verteilte sie dann im Lande.

 

Erst nach Jahren, als sie die Kunde erreichte, dass ihre Schwester im Jahre 1404 den Ritter Wennemar von Heyden geheiratet hatte, der für mehr Gerechtigkeit im Lande sorgte, kehrte sie mit den Räubern auf die Burg zurück. Weil die Bauern in der Gegend und die Bürger der umliegenden Dörfer Jutta ob ihrer sozialen Einstellung schätzen gelernt hatten, übertrugen sie ihr das Amt der Rechtsprechung, das sie mit großem Sachverstand ausführte. Die Räuber setze die junge Frau als Ordnungshüter ein. Seither ging es friedlich und gerecht im Lande zu.

 

Wennemar von Heyden war über die glückliche Wende im Leben der ehemaligen Räuberin so erfreut, dass er aus Dankbarkeit einen Pfarrer in den Ort holte. Er sollte in der vor einiger Zeit erbauten kleinen Kapelle, die dem Heiligen Antonius geweiht war und mit einem Taufbecken und einem Glockenturm ausgestattet war, die Messen lesen. Er setzte sich dafür ein, dass den Bewohnern der Bauernschaft Hagenbeck und Umgebung nicht weiter zugemutet wurde, einen zweistündigen Weg zur Pfarrkirche nach Hervest zum Sakramentenempfang und Gottesdienst zurückzulegen. Durch Kriegsturbulenzen und Wasserfluten war der Weg außerdem auch viel zu gefährlich.

 

Es wird erzählt, dass Jutta veranlasst hat, über dem Eingang der Kapelle folgende Inschrift in den Stein zu meißeln: „Wer dem Anderen Nächster will sein, darf treten in diese Kirche ein.“ Leider ist diese Inschrift, die von etlichen Baumeistern an vielen Kirchen übernommen wurde, verwittert und heute nicht mehr lesbar. (Brigitta Frieben)

 

Literatur:

 

Edelgard Moers (Hrsg): Dorst