Der Herr und der Teufel - oder: Wie der Name Dorsten entstanden ist

 

 

 

Vor langer Zeit schaute Gott der Herr wieder einmal vom Himmel hinunter auf die Erde um zu sehen, ob dort noch alles nach seinem Willen geschähe. Dabei erblickte er ein Fleckchen Erde, das gar lieblich anzusehen war: Prächtige Baumreihen durchzogen die Flure und Felder. Von Wallhecken eingerahmt gaben sie mannigfachen Tierarten eine Heimat. Vereinzelte Bauernhöfe standen verstreut zwischen sanft abfallenden Hügeln. Wollgras leuchtete aus weitläufigen Mooren dem Beobachter strahlend entgegen.

 

Gott der Herr war neugierig geworden und sprach: „Ich will hinunter steigen, um mir alles genau ansehen zu können.“ Schon bald danach machte er sich auf den Weg. Der Teufel aber, der die Angewohnheit hatte, sich stets allem Guten an die Fersen zu heften, folgte ihm, so schnell es seine kleinen Pferdefüße zuließen.

 

Gott der Herr schritt zügig voran, blieb dann und wann stehen, schaute in ein Haus oder roch an den duftenden Sträuchern. Der Teufel blieb immer in seiner Nähe. Er gab nicht auf, auch wenn er des Öfteren in die großen Fußstapfen des Herrn purzelte, aus denen er nur mühsam wieder herauskrabbeln konnte. Übermächtig war seine Angst, dass er einen Menschen übersähe, der geeignet war, seinen teuflischen Einflüsterungen zu folgen. Aber Gott lächelte nur. Als der Teufel wieder einmal in eine der riesigen Fußabdrücke fiel, holte er ihn heraus und sprach: „Schau hinunter, denn was dort schwarz glänzend zu uns herauf leuchtet, ist ein großer Schatz. Die Menschen haben schon viele Stücke von ihm geborgen. Wir aber wollen in den nächsten Ort gehen, um zu sehen, ob seine Bevölkerung dieses Geschenkes und auch fürderhin meines Segens würdig ist. Folgen sie aber dir, sind sie dein, was immer du mit ihnen vor hast. Streben sie jedoch meiner Liebe nach, werde ich sie auf meine Weise belohnen.

 

Im Ort angekommen, ließen sich die beiden „Wanderer“ auf dem Marktplatz am Dorfbrunnen nieder. Was sie sahen, erfreute den Herrn: Menschen aller Rassen und Nationen arbeiteten oder trieben Handel miteinander. Niemand wurde wegen seiner Herkunft benachteiligt. Im Gegenteil: Jeder Einzelne war in besonderem Maße bemüht, dem Anderen gegenüber zuvorkommend und gerecht zu sein. Aber immer wieder kamen die Menschen auch zum Brunnen, um von seinem erfrischenden Nass zu trinken. Erstaunt schaute sich der Herr um und entdeckte ein Schild mit der Aufschrift: „Quelle der Gerechtigkeit“. Erfreut rief Gott aus: „So, wie in diesem Ort sollten alle Menschen dürsten nach Gerechtigkeit. Als Mahnung an die Welt und als Belohnung für diese Ortschaft, soll er diese Gottesworte als Namen tragen.“ Weil er aber den damaligen Bewohnern zu lang war, nannten sie ihn kurzerhand „Dürsten“.

 

Im Laufe der Jahre wurde aus dem Wort, wohl durch ungenaue Aussprache des „ü“, der Name „Dorsten“. Stolz erzählen seine Bürger jedem Besucher ihrer friedvollen Gemeinschaft den Ursprung ihres Ortsnamens. Inzwischen ist der Ort zu einer Stadt angewachsen; denn viele Menschen möchten in diesem Paradies leben. Der Teufel aber, der einsah, dass ihm niemand folgen würde, stampfte so hart mit seinen Hufen auf, dass die Erde unter ihm nachgab und ihn verschlang.

 

Leider kommt er immer wieder dort an die Erdoberfläche, wo er gewiss sein kann, dass Menschen auf ihn hören. Erst heute Morgen las ich in der Zeitung, dass er an etlichen Orten gesehen wurde. (Brigitta Frieben)

 

Literatur: Edelgard Moers (Hrsg): Dorstener Geschichten. Wahrhaftes zum

 

Nachdenken – Märchenhaftes zum Träumen – Sagenhaftes zum Staunen. Dorsten

 

2000. Seite 11