Der Ritter von Wolf

 

 

 

Wenn du heute von Wulfen kommend nach Deuten gehst und auf der B58 direkt

 

vor dem Bahnübergang nach rechts einbiegst, teilt sich die Straße gleich wieder

 

in Burghof, der in den Burgring mündet, an dem Kirche und Pfarrhaus liegen, und

 

in die Kippheide, die direkt an der Bahn entlang läuft. Zwischen diesen Straßen

 

lag früher einmal die Burgwiese. Da gibt es also zwei kleine Straßen, die Burghof

 

und Burgring heißen, man spricht heute noch von einer Burgwiese, aber wo ist die

 

Burg? Wenigstens Überreste müssten doch vorhanden sein. Diese Frage ging mir

 

durch den Kopf, als ich vor über 20 Jahren nach Wulfen kam und mein neues Arbeitsgebiet

 

erkundete. Eine Kollegin, die seit ihrer Kindheit in Wulfen lebt, erzählte

 

mir dann die alte Sage über die Burg.

 

Vor vielen hundert Jahren waren bei uns die Menschen noch in verschiedene

 

Klassen eingeteilt. Die Bauern, Handwerker und Dienstboten waren die Ärmsten

 

und lebten in kleinen baufälligen Hütten. Sie hatten oft nicht einmal genug zum

 

Essen, mussten aber trotzdem ihren Herren von der oft kümmerlichen Ernte,

 

bzw. dem kargen Einkommen Zins und Abgaben zahlen, weil Haus und Land nicht

 

ihr Eigentum waren. Das gehörte der mittleren Klasse, den Rittern, Freiherrn

 

und Grafen, die in festen Burgen wohnten und über Land und Leute herrschten.

 

Man sagt ja nicht zu Unrecht „Wer nicht gehorchen gelernt hat, kann nicht gut

 

herrschen“ und die meisten dieser edlen Herren, so nannte man sie allgemein,

 

hatten von Kindheit an bekommen, was sie wollten, kannten kein Elend und der

 

Gehorsam war für sie ein Fremdwort. So waren sie oft recht schlechte und launige

 

Herren, unter denen das Dienstvolk viel zu leiden hatte.

 

In Wulfen lebte damals der Ritter von Wolf, ein besonders stolzer und grausamer

 

Herr. Wenn ein Bauer den Erntezins nicht ganz bezahlen konnte, dann

 

sperrte er ihn so lange in den Hungerturm, bis die Restschuld bezahlt war. Konnte

 

einer gar nicht zahlen, so vertrieb er ihn und seine ganze Familie von Haus und

 

Hof. Er hatte auch eine Burg, die auf jener Burgwiese lag, die schon beschrieben

 

wurde. Dort lebte er mit seiner Frau, einem Sohn und einer Tochter. Je größer

 

sein Sohn wurde, desto wilder und tollkühner wurde er und ging mit dem Dienstvolk

 

fast genau so launisch um wie sein Vater. Der Ritter liebte ihn daher besonders,

 

weil er in ihm immer stärker sich selbst in seiner Jugendzeit wieder erkannte.

 

Natürlich entwickelte auch der Sohn eine große Leidenschaft für die

 

Jagd, je wilder, desto besser.

 

Als der junge Herr wieder einmal in einem Wald jagte, der ungefähr dort stand,

 

wo heute die Talaue liegt und in dem viele Wildschweine lebten, stöberte er einen

 

besonders schweren Keiler auf, der in ihm sofort das Jagdfieber entfachte.

 

So wartete er nicht auf das übrige Jagdvolk, sondern nahm sofort seinen Jagdspeer

 

und schleuderte ihn gegen das Tier. Der Speer traf zwar den Keiler,

 

machte ihn aber nur wild, so dass er jetzt seinerseits gegen Ross und Reiter anrannte.

 

Das Pferd scheute, stieg senkrecht empor und warf den Jüngling ab. Ehe

 

dieser sich wieder aufrichten und zur Wehr setzen konnte, griff das Wildschwein

 

ihn schon an und riss ihm mit seinen Stoßzähnen die linke Seite auf, so

 

dass er jämmerlich verbluten musste. Das übrige Jagdvolk hatte nun auch den

 

Unglücksort erreicht und konnte zwar den wütenden Keiler töten, dem schwer

 

verwundeten Jüngling aber nicht mehr helfen.

 

Als dem Ritter die schlimme Botschaft vom Tod seines geliebten Sohnes überbracht

 

wurde, soll er, so erzählen einige, den Überbringer der Nachricht sofort

 

getötet haben, was jedoch nicht erwiesen ist. Aber seit dem Tag wurde er noch

 

grausamer, kümmerte sich nicht mehr um seine Güter und trank oft soviel, bis er

 

dem Rausch verfallen war, durch die Gänge torkelte und dabei grässliche Flüche

 

ausstieß. Seine Frau konnte dieses Leben nicht mehr ertragen und starb aus

 

Kummer und Gram. Die Tochter flüchtete in ein einsames Kloster und nahm dort

 

den Schleier, um für die Sünden des Vaters Gott um Vergebung bitten zu können.

 

Die Dienstboten waren, nachdem er einige wegen kleiner Vergehen aufhängen

 

ließ, schon vorher alle geflüchtet, sodass der Ritter ganz allein auf der Burg

 

war und dort schlimmer hauste, als je zuvor.

 

Mittlerweile war es wieder Sommer geworden, eigentlich eine sehr schöne Zeit,

 

wenn da nicht noch die Gewitter wären, die alle fürchteten, weil deren Hagel

 

schon manche Ernte verdorben und deren Blitze schon manche Leute getötet

 

hatte. Ein solches zog von der Lippe herauf. Riesige schwarze Wolken ballten

 

sich zusammen und verdunkelten den Himmel. Am Horizont waren grelle Blitze zu

 

erkennen und man hörte schon die drohenden Donner wie Kanonenschüsse aus

 

nicht allzu weiter Ferne. Die Zeiträume zwischen Blitz und Donner wurden immer

 

kürzer und lauter. Das Gewitter kam sehr schnell auf Wulfen zu. Die Leute liefen

 

in ihre Behausungen, verkrochen sich dort ängstlich und beteten fleißig ihre

 

Rosenkränze, damit sie und ihr Hab und Gut der Herrgott verschonen möge.

 

Nicht so der Ritter von Wolf. Er hatte noch nie vor Gewittern Angst gehabt und

 

torkelte den Turm herauf, um sich an diesem grandiosen Naturschauspiel zu ergötzen.

 

Je näher das Unwetter kam, desto größer war seine Freude. „Ist das alles,

 

was du armseliger Gott zu bieten hast?“ grölte er zum düsteren Himmel empor.

 

Der Wind peitschte ihm starken Regen ins Gesicht, sodass er wieder etwas

 

nüchterner wurde. Da sah er den Wald, in dem sein Sohn gestorben war und den

 

er bis dahin weder angeschaut noch betreten haben soll, durch Blitze hell erleuchtet

 

vor sich liegen, als ob ihm der Herrgott damit zeigen wollte, wie stark

 

er sein konnte. Die darauf folgenden Donner schienen lauter als sonst zu sein.

 

Das Gesicht des Ritters verzerrte sich zu einer teuflischen Fratze, er ballte

 

seine Faust gen Himmel und schrie: „Ja, meinen Sohn konntest du töten, dafür

 

verfluche ich dich in alle Ewigkeit!“ Kaum hatte er diese furchtbaren Worte gesprochen,

 

wurde die Burg von einer dunklen Wolke umhüllt, in der es unzählige

 

Male blitzte. Ein gewaltiger Donner ertönte, sodass die ganze Erde in der Umgebung

 

des Schlosses erbebte. Schlagartig hörte das Gewitter auf, überall

 

herrschte eine unheimliche Stille. Die Leute kamen vorsichtig aus ihren Hütten

 

und besahen sich die Schäden, die Gottseidank nicht groß waren. Nur die Burg

 

war verschwunden, als ob sie die Erde verschlungen hätte. Auch der Ritter ward

 

von niemand mehr gesehen worden.

 

Mit den Jahren wuchs Gras über die Stelle, wo die Burg gestanden hatte, auch

 

ließen die Wulfener dort ihr Vieh wieder weiden. Mit den Jahrhunderten wurde

 

die Geschichte der Burg immer mehr als Märchen angesehen, bis man dann viel

 

später an der Stelle zu graben anfing. Plötzlich stieß man auf Reste einer uralten

 

Mauer und einen halbverbrannten Holzschnitt, der einen Wolf mit weit aufgerissenen

 

Rachen zeigte, wie man ihn auch im Wappen von Wulfen sieht. Alles kann

 

also kein Märchen sein, schloss die Kollegin die Geschichte, denn den Ritter von

 

Wolf gab es offenbar wirklich. Vielleicht stammt der Name Wulfen von ihm ab.

 

(Peter Bertram)

 

Literatur:

 

Edelgard Moers (Hrsg): Dorstener Geschichten. Dorsten 2000. Seite 49 ff