Der Spuk in der Hervester Heide

 

 

 

Vor nicht allzu langer Zeit machte sich ein Mann aus der Wenge gegen Mitternacht

 

von seiner Stammkneipe in Hervest auf den Weg nach Hause. Es war sehr

 

schwül, und so war manches Glas Bier durch seine durstige Kehle geflossen. Ein

 

Schnäpschen zwischendurch tat sein Übriges, und schließlich war er so betrunken,

 

dass er seinen üblichen Heimweg über den Brauckweg verpasste und einen

 

großen Umweg über die Gälkenheide machte.

 

Da der Abend aber sehr schön war und auch die Schwüle nachgelassen hatte,

 

ärgerte er sich nicht, sondern war sogar froh darüber, so noch die schöne, kühle

 

Nachtluft länger genießen zu können. Es war kurz vor Vollmond, die Nacht war

 

sternenklar; der Mais stand schon hoch und wartete auf die baldige Ernte.

 

Der lange Marsch durch die schöne Natur, die durch das helle Mondlicht einen

 

besonderen Reiz erzeugte, hatte den Zecher wieder ziemlich nüchtern gemacht.

 

Plötzlich hatte er das Gefühl, von hinten beobachtet zu werden. Er drehte sich

 

um und sah eine seltsame schwarze Gestalt, die scheinbar etwas über dem Boden

 

schwebte. Unser Mann war kein Angsthase und fühlte sich durch den Alkohol

 

besonders mutig. „Hallo, wer bist du? Hast du dich auch verlaufen? Dann können

 

wir beide doch gemeinsam gehen.“ sprach er der Schatten an und ging währenddessen

 

auf ihn zu. Das schwarze Wesen gab keine Antwort, zog sich aber zurück,

 

sodass der Abstand zwischen ihnen gleich blieb. „Na, dann eben nicht.“ brummelte

 

unser Spätheimkehrer und setzte seinen Heimweg fort. Nach einiger Zeit

 

stellte er aber fest, dass die schwarze Gestalt noch immer hinter ihm war, ihn

 

also regelrecht verfolgte. Beschleunigte er seinen Schritt, wurde auch der

 

Schatten schneller und wurde sofort langsamer, wenn auch er sein Tempo drosselte.

 

Jetzt bekam er es doch mit der Angst zu tun. Da er kurz vor seinem Haus

 

war, lief er die letzten fünfhundert Meter, wobei er das Gefühl hatte, dass das

 

Gespenst - denn nur um sein solches konnte es sich nach seiner Meinung hier

 

handeln - immer näher kam, ja er sogar schon seinen kalten Atem in seinem Nacken

 

zu spüren glaubte.

 

Kurz vor seiner Haustür geschah es dann. Er stolperte und stürzte. Er schrie auf

 

und sah mit vor Angst weit aufgerissenen Augen nach hinten. Der schwarze

 

Schatten hatte vor seinem Vorgarten halt gemacht und verschwand dann lautlos

 

hinter der Gartenhecke. Die Haustür öffnete sich. Seine Frau, die durch sein

 

Wegbleiben sowieso nur leicht geschlafen hatte, kam heraus. „Mein Gott, wie

 

siehst du denn aus?“ fragte sie, half ihrem völlig verstörten Mann auf und nahm

 

ihn mit ins Haus.

 

Nachdem er sich dort etwas erholt hatte und alle Schürfwunden verpflastert

 

waren, erzählte er seine Geschichte und erwartete von seiner Frau ein reichliches

 

Donnerwetter. Zu seiner Überraschung reagierte diese sehr nachdenklich;

 

denn sie war aus dieser Gegend und kannte die alten Geschichten aus ihrer Heimat.

 

„Du weißt doch, dass das Gebiet, durch das du alter Suffkopf heute heimkamst,

 

ganz früher im Volksmund die Hervester Heide genannt wurde. Und da

 

wird von einem ähnlichen Vorfall berichtet, der sich so vor gut 150 Jahren ereignet

 

haben soll: Damals lebten hier nur wenige Leute, u. a. eine Familie, deren

 

Sohn jeden Tag zu seiner Arbeit nach Dorsten ging. Zu jener Zeit gingen die ärmeren

 

Leute alle zu Fuß. Fahrrad und Eisenbahn steckten noch in ihren Kinderschuhen

 

und das Automobil war noch gar nicht erfunden. Als sich der junge Bursche

 

eines schwülen Sommerabends nach getaner Arbeit auf den Heimweg machte,

 

hörte er nach einiger Zeit ein Rascheln im Gebüsch und sah sowie du einen

 

schwarzen Schatten, der sich nicht von seiner Seite rührte. Er lief, so schnell er

 

konnte, zu seinem Elternhaus, das in einem kleinen Wald lag. Erst dort verließ ihn

 

das Gespenst und verschwand in einem Busch. Aus Angst, seine Eltern könnten

 

ihn auslachen und verspotten, erzählte er zu Hause nichts von seinem nächtlichen

 

Erlebnis. Aber der Spuk ging noch tagelang weiter, bis er eines Tages

 

plötzlich verschwunden war und sich auch nicht mehr blicken ließ. Später hat er

 

dann seine Geschichte einem alten Schäfer erzählt und so ist sie uns doch noch

 

überliefert worden.“

 

„Und weiß man denn auch, was der ganze Spuk bedeuten sollte?“ wollte nun ihr

 

Mann wissen. „So genau nicht.“ erwiderte seine Frau. „Aber viele glauben, dass

 

der Geist damals ansagen wollte, dass die Kohle für Hervest eine große Bedeutung

 

erlangen würde, was ja dann auch mit der Zeche eingetroffen ist.“ „Heute

 

wurde am Stammtisch darüber heftig diskutiert, ob unsere Zeche in nächster

 

Zeit wegrationalisiert würde.“ berichtete der Mann seiner Frau. Diese wurde

 

darauf sehr nachdenklich. „Dann wäre das schwarze Gespenst heute wiedergekommen,

 

um uns anzuzeigen, dass die Zeche in Hervest sterben wird.“

 

Wir können natürlich die Hand nicht für alle Einzelheiten dieser Geschichte ins

 

Feuer legen. Wahr ist aber, dass die Zeche nach Hervest gekommen ist und in

 

naher Zukunft verschwunden sein wird. Wahr ist aber auch, dass unser Mann aus

 

der Wenge lange Zeit einen Riesenbogen um seine Stammkneipe gemacht hat und

 

besonders abends sehr häuslich wurde, sehr zur Freude seiner Frau. (Peter

 

Bertram)

 

Literatur:

 

Edelgard Moers (Hrsg): Dorstener Geschichten. Dorsten 2000. Seite 32 ff