Der Spökenkieker von Dorsten

 

 

 

Das Wort „Spökenkieker“ gehört heutzutage nicht mehr zu unserem alltäglichen

 

Wortschatz. Es ist die niederdeutsche Bezeichnung für einen Menschen, der die

 

Gabe einer übersinnlichen Wahrnehmung hat. Früher glaubte man, dass man dies

 

besondere Sehvermögen erlangen konnte, wenn man durch die Augen eines gefundenen

 

Totenschädels sehen würde; denn die Toten hätten die Fähigkeit eines

 

„zweiten Gesichtes“.

 

Vor langer Zeit, es muss so Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen sein, lebte ein

 

solcher Spökenkieker im Süden von Dorsten. Er war ein sehr unscheinbarer Mann

 

und so war es kein Wunder, dass seine Gabe von seinen Mitmenschen nicht besonders

 

anerkannt und geachtet wurde. Viele glaubten sogar, er wolle sich mit

 

seinem „zweiten Gesicht“ nur wichtig tun. Selbst sein eigener Bruder zweifelte

 

an seinen Fähigkeiten und ergriff jede Gelegenheit, um darüber zu spotten und

 

ihn damit zu ärgern.

 

Einst waren die beiden im Wirtshaus zusammen und es kam wieder zu einem Disput

 

zwischen den beiden. „Hör mal du großer Seher, kannst du mir einmal meine

 

nächste Zukunft vorhersagen. Wann werde ich endlich reich? Wo liegen verborgene

 

Schätze?“ Der Bruder nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas und

 

hatte sofort die Lacher auf seiner Seite. „Reich wirst du nicht mehr werden“,

 

antwortete der Spökenkieker, nachdem er lange geschwiegen hatte. Das Gelächter

 

erstarb, auch der Bruder wurde wieder ernst. „Was meinst du damit?“, fragte

 

er nun nach. „Es wäre besser, du würdest jetzt schnell deine Sachen in Ordnung

 

bringen. Viel Zeit hast du nicht mehr dafür“, antwortete der Seher. Der

 

Bruder rang nach Worten, doch dann platzte es aus ihm heraus: „Leute, hört

 

euch den an. Den muss ich in letzter Zeit schwer beleidigt haben. Jetzt ist es

 

wohl das Beste für ihn, wenn ich nicht mehr den Mund aufmachen werde. Aber

 

dieses Mal hast du es zu weit getrieben. Ich werde in den kommenden Jahren,

 

die ich noch sehr wohl erleben werde, dir deine Weissagung immer wieder aufs

 

Butterbrot schmieren. Darauf kannst du Gift nehmen. Aber Vorsicht! Davon kann

 

man sterben.“ Er lachte schallend, aber dieses Mal wollte sich keiner der Zechkumpane

 

so richtig anschließen, vor allem weil der Spökenkieker die Schänke verließ,

 

ohne noch ein weiteres Wort zu sagen.

 

Am folgenden Tag wurde der Bruder vom Schlag getroffen und zwei Tage später

 

beerdigt. Keiner verspottete jetzt noch den Seher. Schuldbewusst mied man ihn,

 

aber er selbst ging kaum noch unter die Leute, wurde sehr ernst und übte bis zu

 

seinem Tode seine Gabe nicht mehr aus. Wahrscheinlich hatte er noch manchmal

 

das „zweite Gesicht“, aber er redete nicht mehr darüber.

 

Wir alle haben sicher schon einmal geträumt, mit einer besonderen Begabung

 

berühmt zu werden. Diese Geschichte zeigt uns aber, dass man an einer solchen

 

Gabe auch sehr schwer tragen kann, dass es nicht immer einfach ist, mit dem

 

Talent, das Gott so einem gegeben hat, richtig umzugehen. Lasst uns deshalb mit

 

unserem Leben zufrieden sein. Wenn wir aber selbst so einem Spökenkieker begegnen,

 

sollten wir uns nicht über ihn lustig machen; denn er hat eine verantwortungsvolle

 

Fähigkeit, mit der es sich nicht immer leicht leben lässt. (Peter Bertram)

 

Literatur:

 

Edelgard Moers (Hrsg): Andere Dorstener Geschichten. Dorsten 2005. Seite

 

167 ff.