Die Seherin Veleda

 

 

 

Zu allen Zeiten hat sich der Mensch für seine Zukunft interessiert. Es gab immer wieder Leute, die die Gabe hatten, in die Zukunft zu schauen. Solche Seher lebten meistens sehr einsam, weil sie sich gerne aus der lauten Welt zurückzogen.

 

Aber ab und zu kamen sie dann doch unter Menschen. Was sie zu sagen hatten, wurde von Mund zu Mund weitergegeben und ihre Worte wurden tief im Herzen bewahrt. Manches wurde auch in eine Sage aufgenommen, die es dann bis zu unserer heutigen Zeit überliefert hat.

 

So berichtet der römische Geschichtsschreiber Tacitus von der Seherin namens Veleda, die auf einem Hügel an der Lippe gelebt haben soll, womit vermutlich der heutige Hardtberg gemeint sein könnte. Sie soll über diese Gegend hier geweissagt haben, dass eine Zeit kommen wird, in der man hier Gold finden würde. Zahlreiche Menschen kämen dann, um nach diesem Gold zu graben. Doch nach einiger Zeit versiege die Quelle wieder. Viele Leute würden dadurch arm werden, aber wenn alle zusammenhielten, könnte diese Armut besiegt werden. Einzelnen Leuten nach den Mund zu reden und ihnen gar ein „Privathoroskop“ zu geben, lag ihr nicht, was folgende Geschichte beweist:

 

Eines Tages wollte sie ein kleiner Bauer aufsuchen, der sehr habgierig war. Nachdem er in einer Furt die Lippe überquert hatte, schlug er sich durchs dichte Unterholz und musste noch die Höhe des Hügels erklimmen, was ihm aber recht leit fiel, da er viel Kraft in sich hatte. Endlich war er bei der ärmlichen Hütte der Seherin angekommen. Aus einem Loch heraus quoll Rauch, Veleda musste also anwesend sein. „Was willst du?“ fragte sie ihn, als er durch die klapprige Tür hereingekommen war. „Seherin, du hast kürzlich von viel Gold gesprochen. Sag mir, wo ich es finden kann. Es soll kein Schaden für dich sein.“ „Verschwinde!“ antwortete sie ihm. „Für so was wie dich ist mir meine Zeit zu schade.“ Der Bauer ging auf sie zu: „Alte Hexe, sag mir, wo das Gold ist, oder ich werde dir die Gurgel abdrehen.“ Da nahm Veleda ihren alten Besen und schlug mit so kräftigen Schlägen auf ihn ein, dass der Bauer aus der Hütte stolperte und das Weite suchte. „Verflucht seist du! Dein Leben wird keine drei Tage mehr dauern!“ rief sie ihm hinterher. Da packte den fliehenden Mann ein furchtbares Grauen. Er lief wie um sein Leben, stürzte den Hügel herunter, durchwatete den Fluss und war heilfroh, als er wieder in seinem Dorf angekommen war. Seine Nachbarn und Zechkumpane erkannten ihn kaum wieder, denn zitternd und furchtsam konnte er ihnen kaum erzählen, was geschehen war. Zwei Tage später wurde er von seinem eigenen Heuwagen überrollt und starb qualvoll.

 

Seit dieser Zeit mied man die Seherin. Wie lange sie noch gelebt hat und wie sie starb, ist uns nicht überliefert. Auch, was die Sage über sie erzählt, wissen heute

 

nur noch sehr wenige.

 

Wenn man an das schwarze Gold, die Kohle, denkt, das hier ja Jahrzehnte gefördert wurde, so hat die Seherin Veleda mit ihrer Prophezeiung Recht behalten. Mit der folgenden Armut könnte die Arbeitslosigkeit gemeint sein, die unserer Stadt heute sehr zu schaffen macht. Dann sollten wir aber auch ihre Botschaft vom Zusammenhalten, d.h. von der Solidarität ernst nehmen und der Stadtrat, aber auch wir selbst sollten das uns dick hinter die Ohren schreiben, um das Problem lösen zu können.

 

Auch heute noch ist die Kunst des In-die-Zukunft-Schauens sehr gefragt, wobei sie mittlerweile regelrecht wissenschaftliche Formen angenommen hat. Die Astrologie ist sehr beliebt, und während früher eine Seherin bzw. ein Seher höchstens Almosen und Spenden bekamen, kann man in unserer Zeit mit Horoskopen gute Geschäfte machen. Leider ist dadurch das eigentliche Sehertum ziemlich untergegangen, aber auch heute noch gibt es diese Begabung. Sie ist nur ganz tief verborgen. Um sie zu finden, dürfen wir uns von unserer lauten und schrillen Zeit nicht ganz vereinnahmen lassen, denn tief in unseren Herzen, wohin sich die Freiheit geflüchtet hat, haben wir ein Gespür dafür und ganz feine Ohren, um solche Visionen zu hören und zu verstehen. (Peter Bertram)

 

Literatur:

 

Edelgard Moers (Hrsg): Andere Dorstener Geschichten. Dorsten 2005. Seite

 

154 ff.