Die Hexenkatt an der Lippestraße

 

 

 

Wenn man heute zu einem sagt: „Du alter Nachtwächter!“ dann ist das sicher

 

kein Lob. Man will damit ausdrücken, dass der Betroffene halt ein bisschen trottelig

 

ist. Das war in früheren Zeiten ganz anders, damals war Nachtwächter noch

 

ein Beruf, ein sehr wichtiger sogar. Er ersetzte nämlich die heute so wichtigen

 

nächtlichen Polizeistreifen und wachte über seine Mitbürger, damit sie ruhig

 

schlafen konnten und vor Feuersbrunst und Raubgesindel sicher waren.

 

Auch in Dorsten wurde in der damaligen Zeit dieser Beruf von gewissenhaften

 

Leuten versehen. Einer von ihnen fiel dadurch auf, dass er vor den Leuten immer

 

schrecklich angab. Als er wieder einmal mit seinen Freunden zusammensaß, kam

 

man irgendwie auf Geister zu sprechen. Einer, der in der Lippestraße wohnte,

 

berichtete, dass in seiner Straße von einer schwarzen Katze erzählt wurde, bei

 

der es nicht mit rechten Dingen zuging und die deshalb allgemein Hexenkatt genannt

 

wurde. „Bis jetzt habe ich in der Lippestraße noch nie etwas bemerkt.“

 

sagte der Nachtwächter dazu. „Wahrscheinlich hat sie vor mir Angst und zeigt

 

sich deshalb nicht. Aber ich werde jetzt auf sie achten und mit meiner Hellebarde

 

diesem Spuk ein Ende bereiten.“ Eine Hellebarde ist ein Speer mit einer

 

langen Spitze, an der vorne noch so eine Art Beil mit einem Haken angebracht

 

ist, mit dem man feindliche Reiter vom Pferd herunter ziehen konnte. Diese

 

Waffe hatten damals alle Nachtwächter.

 

Um nicht als Sprüchemacher von den anderen verhöhnt zu werden, war er in den

 

nächsten Nächten sehr oft auf der Lippestraße, um nach dieser Katze Ausschau

 

zu halten. Eines Nachts war es dann soweit. Der Nachtwächter hatte gerade die

 

12. Stunde angesagt - es gehörte nämlich zu seinen Pflichten, in der Nacht jede

 

Stunde auszurufen - und bog in die Lippestraße ein, als plötzlich eine schwarze

 

Katze vor ihm auftauchte. Das Tier war ziemlich groß und hatte glühende Augen.

 

„Hab ich dich endlich, du dummes Vieh.“ rief der Wächter und hieb mit dem Beil

 

seiner Hellebarde auf die Katze ein. Er traf sie voll und dachte stolz, dem Spuk

 

endlich ein Ende gemacht zu haben, aber zu seinem Entsetzen wurde das Tier

 

immer größer. Von allen Seiten und aus allen Ecken kamen Hunderte von Katzen,

 

die ihn anzuspringen und zu kratzen versuchten. Er ließ die Waffe fallen und lief

 

um sein Leben. Kaum war er von der Lippestraße auf dem Marktplatz angelangt,

 

war der grausame Spuk wie vom Erdboden verschluckt.

 

Der Nachtwächter wurde durch den Schrecken sehr krank. Als er wieder gesund

 

war, erkannten ihn seine Freunde kaum wieder. Mager und still war er geworden,

 

man hörte von ihm keine großen Sprüche mehr. Seit dieser Zeit machten Dorstens

 

Nachtwächter immer, wenn es dunkel war, einen großen Bogen um die Lippestraße.

 

Auch sonst traute sich niemand mehr, in der Dunkelheit dort zu sein.

 

Heute gehört die Lippestraße zur Einkaufszone Dorstens. Vielleicht gibt es die

 

Hexenkatt dort immer noch. Das würde erklären, warum die dortigen Verkaufsleute

 

gegen eine Verlängerung der Ladenzeit bis in die Dunkelheit sind, und heute

 

die Dorstener eine solche auch kaum annehmen. (Peter Bertram)

 

Literatur:

 

Edelgard Moers (Hrsg): Dorstener Geschichten. Dorsten 2000. Seite 24 ff