Der Grenzstein

 

 

 

Jeder, der sich schon einmal ein Haus gebaut, bzw. ein Grundstück gekauft oder

 

es verkauft hat, weiß, wie wichtig dabei Grenzsteine sind; denn nur durch sie

 

kann man die richtige Größe des Grundbesitzes bemessen, und in Streitfällen

 

kann die genaue Größe eine sehr wichtige Rolle spielen. Verschiebt man nun einen

 

solchen Grenzstein zum Nachbarn hin, dann macht man sein Feld dadurch größer,

 

aber das Grundstück des Nachbarn wird um dieselbe Fläche kleiner. Das Verschieben

 

des Grenzsteins ist also ein ganz gemeiner Diebstahl.

 

Dies konnte vor langer Zeit einen Wulfener Heidebauern nicht daran hindern,

 

jedes Jahr den Grenzstein von seinem Acker ein bisschen zum Nachbarn herüber

 

zu setzen. Weil er es jedes Jahr nur um ein paar Zentimeter tat, merkte es keiner,

 

weder der Nachbar noch seine eigene Familie, der er nichts davon erzählte.

 

Die Jahre gingen dahin und der Acker des Bauern war nun schon ein gutes Stück

 

gewachsen, denn „Kleinvieh macht auch Mist“, wie der Volksmund sehr richtig zu

 

sagen weiß. Aber der Bauer wurde immer älter, schließlich hatte seine letzte

 

Stunde geschlagen und er wurde mit seinem Geheimnis begraben, von dem er bis

 

zuletzt niemand etwas erzählt hatte.

 

Die Beerdigung hatte dem Sohn viel Arbeit gebracht, denn es galt, Verwandtschaft

 

und Nachbarschaft gut zu verköstigen, hier und da einen Schnaps zu

 

trinken, sodass der Sohn froh war, endlich zum Schlafen zu kommen. Um die

 

Mitternachtsstunde wurde er von einem eiskalten Windhauch geweckt. Leicht

 

durchfroren wollte er schnell das Fenster schließen, als er plötzlich davor die

 

schwarze Gestalt sah, die auf ihn unverwandt zu blicken schien. Ein Riesenschreck

 

durchfuhr ihn, dass er sich nicht zu rühren getraute, geschweige denn,

 

das Fenster zuzumachen. Er starrte unverwandt auf den schwarzen Schatten,

 

und je mehr er darauf schaute, umso sicherer war er sich, dass es der Vater sein

 

musste, den sie gestern ja beerdigt hatten. Er war fast soweit, die Gestalt zu

 

fragen, da verschwand sie schlagartig wieder und sofort war auch die Kälte wie

 

weggeblasen.

 

Der Sohn konnte lange nicht einschlafen und auch die übrige Nacht schlief er

 

unruhig und fühlte sich am Morgen wie gerädert. Weil er sich keinen Rat wusste,

 

ging er zum Pastor. Der Pastor kratzte sich am Bart, wie er es immer tat, wenn

 

er scharf nachdachte. „Du sagst, es könnte dein Vater sein.“ sagte er dann

 

schließlich. „Aber eigentlich ist das egal. Pass auf, wenn dir der Schatten heute

 

Nacht wieder erscheint, dann frage ihn, was er will. Aber um Gottes Willen, tue

 

das dann auch, sonst kann etwas sehr Schlimmes passieren!“ Der junge Bauer

 

bedrängte den Pastor, ihm noch mehr zu sagen, aber der Pfarrer war dazu nicht

 

mehr bereit und schickte ihn nach Hause. Der Jungbauer verrichtete sein Tagwerk,

 

legte sich am Abend ins Bett und schlief ein. Abermals weckte ihn ein kalter

 

Wind und er sah die dunkle Gestalt am Fenster. Obwohl er vor Schrecken

 

wieder ganz starr war, erinnerte er sich daran, was der Pastor gesagt hatte und

 

fragte: „Was willst du?“ „Hilf mir, den Grenzstein zu verrücken!“ antwortete der

 

schwarze Schatten und verschwand. Als der Sohn vorsichtig zum Fenster ging,

 

sah er den Geist auf dem Hof stehen und ihm ungeduldig zuwinken. Schnell zog

 

sich der Bauer an und kam herunter auf den Hof, um den toten Vater zu begleiten.

 

Am Hoftor verließ ihn dann der Mut und er wollte umkehren, aber der

 

Schatten konnte ihm am Jackenärmel fassen und zog ihn eilig durch die Nacht zu

 

dem Feld, das er vom Vater geerbt hatte. Dort zeigte er zuerst auf den Grenzstein

 

und dann auf die Stelle, wo der Stein von Rechts wegen hingehörte. Bevor

 

er dann noch etwas sagen konnte, verschwand der Geist wieder.

 

Nachdenklich ging der Sohn nach Hause. Nachdem er sich von seinem Schrecken

 

erholt hatte und da er auch so schlitzohrig wie sein Vater war, dachte er bei

 

sich: „Eigentlich weiß ja niemand außer mir von der Sache. Warum soll ich den

 

Stein verrücken? Schließlich habe ich so einen größeren Acker.“ Als er aber nach

 

Hause kam, begann es schon zu tagen, und der Jungbauer konnte in der aufkommenden

 

Helligkeit zu seinem Entsetzen sehen, dass in dem Ärmel des Kittel, an

 

dem er auf den Acker gezogen worden war, ein großes Brandloch war. Sofort erinnerte

 

er sich daran, was der Pastor zum Schluss gesagt hatte, dass, wenn er

 

dem Wunsch des Geistes nicht nachkam, etwas Schlimmes passieren würde. So

 

fuhr er am Abend, als niemand mehr auf den Feldern arbeitete, schnell zu seinem

 

Acker und setzte den Grenzstein dorthin, wohin der tote Vater gezeigt hatte.

 

Seitdem konnte der Sohn in der Nacht wieder ruhig schlafen und wurde nicht

 

mehr geweckt. Nach dem nächsten Sonntagsgottesdienst in Wulfen nahm ihn der

 

Pastor beiseite und fragte, was der Geist denn von ihm gewollt habe. Da erzählte

 

der Sohn ihm die Geschichte mit dem Grenzstein, verschwieg aber wohlweißlich,

 

dass er zuerst vorgehabt hatte, alles so zu belassen, wie es war, und fragte

 

vielmehr, was denn passiert wäre, wenn er es nicht getan hätte. „Dann wäre der

 

alte Heidbauer dir ein drittes Mal erschienen. Hättest du dich dann erneut geweigert,

 

wäre dein Vater ohne die Gnade Gottes geblieben und hätte jede Nacht

 

als Geist vergeblich an dem Grenzstein ziehen und zerren müssen. Dir aber“,

 

fügte der alte Pastor hinzu, „hätte in der nächsten Nacht der Teufel den Hals

 

umgedreht.“ Und er hob drohend den Zeigefinger; denn nun konnte er sich alles

 

zusammenreimen. Ihr glaubt die Geschichte nicht? Dann geht zu den Nachkommen

 

des alten Heidbauern. Die haben die Jacke mit dem Brandloch aufbewahrt

 

bis zum heutigen Tage. (Peter Bertram)